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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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Schwächliche in diesen Helden ist ihr air de famille,
der Grundzug ihres Charakters. Wir unterscheiden
aber wesentlich zwei Gattungen derselben, die wei¬
chen, süßen, gutmüthigen Tugendspiegel, und die
sich spreitzenden, Freiheit und Genialität und Kraft
forcirenden Rigoristen.

Die erstgenannte Gattung umfaßt die Werther
und Siegwarte, die treuen Schäfer, die thränenrei¬
chen Jünglinge, die mondsüchtigen Mädchen, die ganze
Sippschaft der Empfindsamen; ferner die guten Vä¬
ter und Mütter, die wohlerzogne stille Familie, das
hausbackne Philisterthum, den fleißigen Geschäfts¬
mann, den reichen wohlthätigen Onkel, den gefühl¬
vollen herablassenden Prinzen und Grafen, den ver¬
kannten und gerechtfertigten Staatsdiener etc. Welche
Gutmüthigkeit auch alle diese Leute auszeichnen mag,
sie wird unerträglich durch die Bornirtheit, durch
die Vorurtheile, durch den falschen Jammer und durch
die Gemeinheit, auf welchen sie gegründet ist. Ihr
Charakter ist Schwäche, Nachgiebigkeit gegen das
lächerlichste Vorurtheil, Genügsamkeit mit dem Un¬
leidlichen, Prahlerei mit dem Alltäglichen. Die lei¬
dende Tugend dieser Helden und Heldinnen besteht
gewöhnlich in einem empfindsamen Thränenstrom und
ganz unnützem Jammer, dann in einem sogenannten
großmüthigen Entsagen. Die guten Leute wissen sich
nicht zu helfen, und thun beinah in jedem Collisions¬
fall das Albernste. Sie weinen, verzweifeln, erschie¬
ßen sich, oder entsagen, statt kräftig zu handeln.

Schwaͤchliche in dieſen Helden iſt ihr air de famille,
der Grundzug ihres Charakters. Wir unterſcheiden
aber weſentlich zwei Gattungen derſelben, die wei¬
chen, ſuͤßen, gutmuͤthigen Tugendſpiegel, und die
ſich ſpreitzenden, Freiheit und Genialitaͤt und Kraft
forcirenden Rigoriſten.

Die erſtgenannte Gattung umfaßt die Werther
und Siegwarte, die treuen Schaͤfer, die thraͤnenrei¬
chen Juͤnglinge, die mondſuͤchtigen Maͤdchen, die ganze
Sippſchaft der Empfindſamen; ferner die guten Vaͤ¬
ter und Muͤtter, die wohlerzogne ſtille Familie, das
hausbackne Philiſterthum, den fleißigen Geſchaͤfts¬
mann, den reichen wohlthaͤtigen Onkel, den gefuͤhl¬
vollen herablaſſenden Prinzen und Grafen, den ver¬
kannten und gerechtfertigten Staatsdiener ꝛc. Welche
Gutmuͤthigkeit auch alle dieſe Leute auszeichnen mag,
ſie wird unertraͤglich durch die Bornirtheit, durch
die Vorurtheile, durch den falſchen Jammer und durch
die Gemeinheit, auf welchen ſie gegruͤndet iſt. Ihr
Charakter iſt Schwaͤche, Nachgiebigkeit gegen das
laͤcherlichſte Vorurtheil, Genuͤgſamkeit mit dem Un¬
leidlichen, Prahlerei mit dem Alltaͤglichen. Die lei¬
dende Tugend dieſer Helden und Heldinnen beſteht
gewoͤhnlich in einem empfindſamen Thraͤnenſtrom und
ganz unnuͤtzem Jammer, dann in einem ſogenannten
großmuͤthigen Entſagen. Die guten Leute wiſſen ſich
nicht zu helfen, und thun beinah in jedem Colliſions¬
fall das Albernſte. Sie weinen, verzweifeln, erſchie¬
ßen ſich, oder entſagen, ſtatt kraͤftig zu handeln.

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[196/0206] Schwaͤchliche in dieſen Helden iſt ihr air de famille, der Grundzug ihres Charakters. Wir unterſcheiden aber weſentlich zwei Gattungen derſelben, die wei¬ chen, ſuͤßen, gutmuͤthigen Tugendſpiegel, und die ſich ſpreitzenden, Freiheit und Genialitaͤt und Kraft forcirenden Rigoriſten. Die erſtgenannte Gattung umfaßt die Werther und Siegwarte, die treuen Schaͤfer, die thraͤnenrei¬ chen Juͤnglinge, die mondſuͤchtigen Maͤdchen, die ganze Sippſchaft der Empfindſamen; ferner die guten Vaͤ¬ ter und Muͤtter, die wohlerzogne ſtille Familie, das hausbackne Philiſterthum, den fleißigen Geſchaͤfts¬ mann, den reichen wohlthaͤtigen Onkel, den gefuͤhl¬ vollen herablaſſenden Prinzen und Grafen, den ver¬ kannten und gerechtfertigten Staatsdiener ꝛc. Welche Gutmuͤthigkeit auch alle dieſe Leute auszeichnen mag, ſie wird unertraͤglich durch die Bornirtheit, durch die Vorurtheile, durch den falſchen Jammer und durch die Gemeinheit, auf welchen ſie gegruͤndet iſt. Ihr Charakter iſt Schwaͤche, Nachgiebigkeit gegen das laͤcherlichſte Vorurtheil, Genuͤgſamkeit mit dem Un¬ leidlichen, Prahlerei mit dem Alltaͤglichen. Die lei¬ dende Tugend dieſer Helden und Heldinnen beſteht gewoͤhnlich in einem empfindſamen Thraͤnenſtrom und ganz unnuͤtzem Jammer, dann in einem ſogenannten großmuͤthigen Entſagen. Die guten Leute wiſſen ſich nicht zu helfen, und thun beinah in jedem Colliſions¬ fall das Albernſte. Sie weinen, verzweifeln, erſchie¬ ßen ſich, oder entſagen, ſtatt kraͤftig zu handeln.

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/206>, abgerufen am 27.04.2024.