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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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liches Wohlwollen bei ihnen voraussetzen. Doch ist
eben so wenig zu läugnen, daß diese höfliche und
feine Sitte sehr häufig unter ihrem äußern Schein
die häßlichste Natur verbirgt. Zwei Übel sind von
ihr unzertrennlich, die Lüge und die Gemeinheit. Man
nennt mit Recht unser Zeitalter das der Lüge. Unsre
Sitten bringen es mit sich, daß wir uns kaum auf
der Straße begegnen können, ohne uns anzulügen.
Möchte die Wahrheit wenigstens ins Gebiet der Dich¬
tung flüchten können, aber auch dahin bringen wir
unsre Lüge mit, und stellen hier erst recht eigentlich
die Muster derselben auf. Unsre Lügen sind indeß
durch die Gewohnheit in stehende Vorurtheile ver¬
wandelt worden, über deren lügenhaften Ursprung
man gar nicht einmal mehr nachdenkt, die uns
gleichsam angeboren, wenigstens anerzogen werden,
und in deren Schmutz wir wie in einem Gewande
der Unschuld unbefangen und fröhlich einhertreten.
So hat man die Pedanterei in Würde, die Koket¬
terie in Naivetät, die Eitelkeit in Ehre, den Hunde¬
muth in Treue, die Feigheit in christliche Gelassen¬
heit, die Pfiffigkeit in Weisheit hineingelogen, und
jede Tugend mit einer Untugend legirt, wie Gold
mit Zinn. Man will damit nicht immer betrügen,
man hat dies gar nicht nöthig, denn es ist schon
alles betrogen. Die ewige Lüge ist nur die Folge
des ewigen Selbstbetrugs.

Die Gemeinheit geht der Lüge zur Seite. Ge¬
meinheit ist ein Begriff, der nur für cultivirte Zei¬

liches Wohlwollen bei ihnen vorausſetzen. Doch iſt
eben ſo wenig zu laͤugnen, daß dieſe hoͤfliche und
feine Sitte ſehr haͤufig unter ihrem aͤußern Schein
die haͤßlichſte Natur verbirgt. Zwei Übel ſind von
ihr unzertrennlich, die Luͤge und die Gemeinheit. Man
nennt mit Recht unſer Zeitalter das der Luͤge. Unſre
Sitten bringen es mit ſich, daß wir uns kaum auf
der Straße begegnen koͤnnen, ohne uns anzuluͤgen.
Moͤchte die Wahrheit wenigſtens ins Gebiet der Dich¬
tung fluͤchten koͤnnen, aber auch dahin bringen wir
unſre Luͤge mit, und ſtellen hier erſt recht eigentlich
die Muſter derſelben auf. Unſre Luͤgen ſind indeß
durch die Gewohnheit in ſtehende Vorurtheile ver¬
wandelt worden, uͤber deren luͤgenhaften Urſprung
man gar nicht einmal mehr nachdenkt, die uns
gleichſam angeboren, wenigſtens anerzogen werden,
und in deren Schmutz wir wie in einem Gewande
der Unſchuld unbefangen und froͤhlich einhertreten.
So hat man die Pedanterei in Wuͤrde, die Koket¬
terie in Naivetaͤt, die Eitelkeit in Ehre, den Hunde¬
muth in Treue, die Feigheit in chriſtliche Gelaſſen¬
heit, die Pfiffigkeit in Weisheit hineingelogen, und
jede Tugend mit einer Untugend legirt, wie Gold
mit Zinn. Man will damit nicht immer betruͤgen,
man hat dies gar nicht noͤthig, denn es iſt ſchon
alles betrogen. Die ewige Luͤge iſt nur die Folge
des ewigen Selbſtbetrugs.

Die Gemeinheit geht der Luͤge zur Seite. Ge¬
meinheit iſt ein Begriff, der nur fuͤr cultivirte Zei¬

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[201/0211] liches Wohlwollen bei ihnen vorausſetzen. Doch iſt eben ſo wenig zu laͤugnen, daß dieſe hoͤfliche und feine Sitte ſehr haͤufig unter ihrem aͤußern Schein die haͤßlichſte Natur verbirgt. Zwei Übel ſind von ihr unzertrennlich, die Luͤge und die Gemeinheit. Man nennt mit Recht unſer Zeitalter das der Luͤge. Unſre Sitten bringen es mit ſich, daß wir uns kaum auf der Straße begegnen koͤnnen, ohne uns anzuluͤgen. Moͤchte die Wahrheit wenigſtens ins Gebiet der Dich¬ tung fluͤchten koͤnnen, aber auch dahin bringen wir unſre Luͤge mit, und ſtellen hier erſt recht eigentlich die Muſter derſelben auf. Unſre Luͤgen ſind indeß durch die Gewohnheit in ſtehende Vorurtheile ver¬ wandelt worden, uͤber deren luͤgenhaften Urſprung man gar nicht einmal mehr nachdenkt, die uns gleichſam angeboren, wenigſtens anerzogen werden, und in deren Schmutz wir wie in einem Gewande der Unſchuld unbefangen und froͤhlich einhertreten. So hat man die Pedanterei in Wuͤrde, die Koket¬ terie in Naivetaͤt, die Eitelkeit in Ehre, den Hunde¬ muth in Treue, die Feigheit in chriſtliche Gelaſſen¬ heit, die Pfiffigkeit in Weisheit hineingelogen, und jede Tugend mit einer Untugend legirt, wie Gold mit Zinn. Man will damit nicht immer betruͤgen, man hat dies gar nicht noͤthig, denn es iſt ſchon alles betrogen. Die ewige Luͤge iſt nur die Folge des ewigen Selbſtbetrugs. Die Gemeinheit geht der Luͤge zur Seite. Ge¬ meinheit iſt ein Begriff, der nur fuͤr cultivirte Zei¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/211>, abgerufen am 28.04.2024.