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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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zu verwechseln, und zu einer Göttin zu erheben, was
in Frankreich ewig nur eine Lustdirne bleibt. Die
Sinnlichkeit wird zuerst von der Eitelkeit gerechtfer¬
tigt, dann vom Talent auch andern sogar zur Be¬
wunderung aufgestellt, aber was im Ursprung ge¬
mein ist, bleibt es auch in der glänzendsten, täu¬
schendsten, rührendsten Hülle. Die Kunst ist dem
Edlen gewidmet, und wenn sie in vieler Hinsicht in
Göthe den Liebling erkennt, so giebt sie sich doch nicht
allen Launen seiner Muse Preis, und weiset die Ge¬
meinheit verderbter geselliger Verhältnisse, die über¬
zuckerte Darstellung des modernen Lasters, die Gour¬
mandise eines unnatürlichen Appetites, die Mücken¬
fängerei wollüstiger Reminiszenzen, die Koketterie
der Männer und den Ritterdienst der Damen um
die Männer, die Toilette des Mannes von fünfzig
Jahren, die sybaritischen Wahlverwandtschaften und
die Verhimmelung so manches Don Juan dem, ein ganz
anderer Platz gebührt hätte, völlig über ihre Gren¬
zen hinaus. Muß schon die Kunst gegen diesen Mi߬
brauch ihrer edelsten Kräfte vertheidigt werden, so
hat allerdings auch die Moral ein heiliges Recht,
das schlechthin Unwürdige daran zu verdammen.

So wenig sich diese Schattenseiten bei Göthe
verbergen, so täuschen sich doch die meisten Leser
selbst darüber, indem sie entweder aus unbegreiflicher
Gutmüthigkeit nicht sehn wollen, was sie sehen,
oder sich bei der schwachen Seite fassen und beste¬
chen lassen. Göthe besaß im höchsten Grade das Ta¬

zu verwechſeln, und zu einer Goͤttin zu erheben, was
in Frankreich ewig nur eine Luſtdirne bleibt. Die
Sinnlichkeit wird zuerſt von der Eitelkeit gerechtfer¬
tigt, dann vom Talent auch andern ſogar zur Be¬
wunderung aufgeſtellt, aber was im Urſprung ge¬
mein iſt, bleibt es auch in der glaͤnzendſten, taͤu¬
ſchendſten, ruͤhrendſten Huͤlle. Die Kunſt iſt dem
Edlen gewidmet, und wenn ſie in vieler Hinſicht in
Goͤthe den Liebling erkennt, ſo giebt ſie ſich doch nicht
allen Launen ſeiner Muſe Preis, und weiſet die Ge¬
meinheit verderbter geſelliger Verhaͤltniſſe, die uͤber¬
zuckerte Darſtellung des modernen Laſters, die Gour¬
mandiſe eines unnatuͤrlichen Appetites, die Muͤcken¬
faͤngerei wolluͤſtiger Reminiszenzen, die Koketterie
der Maͤnner und den Ritterdienſt der Damen um
die Maͤnner, die Toilette des Mannes von fuͤnfzig
Jahren, die ſybaritiſchen Wahlverwandtſchaften und
die Verhimmelung ſo manches Don Juan dem, ein ganz
anderer Platz gebuͤhrt haͤtte, voͤllig uͤber ihre Gren¬
zen hinaus. Muß ſchon die Kunſt gegen dieſen Mi߬
brauch ihrer edelſten Kraͤfte vertheidigt werden, ſo
hat allerdings auch die Moral ein heiliges Recht,
das ſchlechthin Unwuͤrdige daran zu verdammen.

So wenig ſich dieſe Schattenſeiten bei Goͤthe
verbergen, ſo taͤuſchen ſich doch die meiſten Leſer
ſelbſt daruͤber, indem ſie entweder aus unbegreiflicher
Gutmuͤthigkeit nicht ſehn wollen, was ſie ſehen,
oder ſich bei der ſchwachen Seite faſſen und beſte¬
chen laſſen. Goͤthe beſaß im hoͤchſten Grade das Ta¬

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[221/0231] zu verwechſeln, und zu einer Goͤttin zu erheben, was in Frankreich ewig nur eine Luſtdirne bleibt. Die Sinnlichkeit wird zuerſt von der Eitelkeit gerechtfer¬ tigt, dann vom Talent auch andern ſogar zur Be¬ wunderung aufgeſtellt, aber was im Urſprung ge¬ mein iſt, bleibt es auch in der glaͤnzendſten, taͤu¬ ſchendſten, ruͤhrendſten Huͤlle. Die Kunſt iſt dem Edlen gewidmet, und wenn ſie in vieler Hinſicht in Goͤthe den Liebling erkennt, ſo giebt ſie ſich doch nicht allen Launen ſeiner Muſe Preis, und weiſet die Ge¬ meinheit verderbter geſelliger Verhaͤltniſſe, die uͤber¬ zuckerte Darſtellung des modernen Laſters, die Gour¬ mandiſe eines unnatuͤrlichen Appetites, die Muͤcken¬ faͤngerei wolluͤſtiger Reminiszenzen, die Koketterie der Maͤnner und den Ritterdienſt der Damen um die Maͤnner, die Toilette des Mannes von fuͤnfzig Jahren, die ſybaritiſchen Wahlverwandtſchaften und die Verhimmelung ſo manches Don Juan dem, ein ganz anderer Platz gebuͤhrt haͤtte, voͤllig uͤber ihre Gren¬ zen hinaus. Muß ſchon die Kunſt gegen dieſen Mi߬ brauch ihrer edelſten Kraͤfte vertheidigt werden, ſo hat allerdings auch die Moral ein heiliges Recht, das ſchlechthin Unwuͤrdige daran zu verdammen. So wenig ſich dieſe Schattenſeiten bei Goͤthe verbergen, ſo taͤuſchen ſich doch die meiſten Leſer ſelbſt daruͤber, indem ſie entweder aus unbegreiflicher Gutmuͤthigkeit nicht ſehn wollen, was ſie ſehen, oder ſich bei der ſchwachen Seite faſſen und beſte¬ chen laſſen. Goͤthe beſaß im hoͤchſten Grade das Ta¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/231>, abgerufen am 27.04.2024.