Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

schmeicheln, im Mittelalter aber das Herz im tiefen
Grunde bewegen, bei uns muß es dem Verstand
schmeicheln. Die Griechen übersetzten die schöne Na¬
tur, das Mittelalter den Glauben, wir übersetzen
unsre Wissenschaft in die Poesie. In nichts andrem
besteht das Wesen unsres Romans. Die griechische
Weltansicht war eine sinnliche, die mittelalterliche
eine fromme, die unsrige ist eine verständige. Die
Poesie hat sich immer diesen allgemeinen Weltansich¬
ten verschiedner Zeitalter angeschlossen, warum sollte
es die unsrige nicht auch?

Die verständige Ansicht der Dinge ist immer eine
epische, denn sie stellt sich am freiesten der Objecten¬
welt gegenüber. Darum sagt ihr die epische Form
auch am meisten zu, und vorzüglich der Roman, weil
dieser die freieste epische Form ist.

Die noch immer frisch quellende Gemüthskraft in
unsrer Nation findet auch noch immer ihren unmit¬
telbaren Ablauf in der Lyrik und im Drama. Der
immer mehr alles überflügelnde Verstand reißt aber
doch die meisten Dichter in die Romane fort, und
wie mehrere unsrer vorzüglichsten Dichter in der Ju¬
gend Lieder gesungen, in der vollen Manneskraft
Schauspiele gedichtet und bei herannahendem Alter
Romane geschrieben, so zeigt sich auch in der Masse
des Dichtervolks ein ähnlicher Stufengang. Die Ro¬
manschreiber nehmen reißend überhand, wie vor drei¬
ßig Jahren die Schauspieldichter, und vor sechzig
Jahren die Lyriker.

ſchmeicheln, im Mittelalter aber das Herz im tiefen
Grunde bewegen, bei uns muß es dem Verſtand
ſchmeicheln. Die Griechen uͤberſetzten die ſchoͤne Na¬
tur, das Mittelalter den Glauben, wir uͤberſetzen
unſre Wiſſenſchaft in die Poeſie. In nichts andrem
beſteht das Weſen unſres Romans. Die griechiſche
Weltanſicht war eine ſinnliche, die mittelalterliche
eine fromme, die unſrige iſt eine verſtaͤndige. Die
Poeſie hat ſich immer dieſen allgemeinen Weltanſich¬
ten verſchiedner Zeitalter angeſchloſſen, warum ſollte
es die unſrige nicht auch?

Die verſtaͤndige Anſicht der Dinge iſt immer eine
epiſche, denn ſie ſtellt ſich am freieſten der Objecten¬
welt gegenuͤber. Darum ſagt ihr die epiſche Form
auch am meiſten zu, und vorzuͤglich der Roman, weil
dieſer die freieſte epiſche Form iſt.

Die noch immer friſch quellende Gemuͤthskraft in
unſrer Nation findet auch noch immer ihren unmit¬
telbaren Ablauf in der Lyrik und im Drama. Der
immer mehr alles uͤberfluͤgelnde Verſtand reißt aber
doch die meiſten Dichter in die Romane fort, und
wie mehrere unſrer vorzuͤglichſten Dichter in der Ju¬
gend Lieder geſungen, in der vollen Manneskraft
Schauſpiele gedichtet und bei herannahendem Alter
Romane geſchrieben, ſo zeigt ſich auch in der Maſſe
des Dichtervolks ein aͤhnlicher Stufengang. Die Ro¬
manſchreiber nehmen reißend uͤberhand, wie vor drei¬
ßig Jahren die Schauſpieldichter, und vor ſechzig
Jahren die Lyriker.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0282" n="272"/>
&#x017F;chmeicheln, im Mittelalter aber das Herz im tiefen<lb/>
Grunde bewegen, bei uns muß es dem Ver&#x017F;tand<lb/>
&#x017F;chmeicheln. Die Griechen u&#x0364;ber&#x017F;etzten die &#x017F;cho&#x0364;ne Na¬<lb/>
tur, das Mittelalter den Glauben, wir u&#x0364;ber&#x017F;etzen<lb/>
un&#x017F;re Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft in die Poe&#x017F;ie. In nichts andrem<lb/>
be&#x017F;teht das We&#x017F;en un&#x017F;res Romans. Die griechi&#x017F;che<lb/>
Weltan&#x017F;icht war eine &#x017F;innliche, die mittelalterliche<lb/>
eine fromme, die un&#x017F;rige i&#x017F;t eine ver&#x017F;ta&#x0364;ndige. Die<lb/>
Poe&#x017F;ie hat &#x017F;ich immer die&#x017F;en allgemeinen Weltan&#x017F;ich¬<lb/>
ten ver&#x017F;chiedner Zeitalter ange&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, warum &#x017F;ollte<lb/>
es die un&#x017F;rige nicht auch?</p><lb/>
        <p>Die ver&#x017F;ta&#x0364;ndige An&#x017F;icht der Dinge i&#x017F;t immer eine<lb/>
epi&#x017F;che, denn &#x017F;ie &#x017F;tellt &#x017F;ich am freie&#x017F;ten der Objecten¬<lb/>
welt gegenu&#x0364;ber. Darum &#x017F;agt ihr die epi&#x017F;che Form<lb/>
auch am mei&#x017F;ten zu, und vorzu&#x0364;glich der Roman, weil<lb/>
die&#x017F;er die freie&#x017F;te epi&#x017F;che Form i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Die noch immer fri&#x017F;ch quellende Gemu&#x0364;thskraft in<lb/>
un&#x017F;rer Nation findet auch noch immer ihren unmit¬<lb/>
telbaren Ablauf in der Lyrik und im Drama. Der<lb/>
immer mehr alles u&#x0364;berflu&#x0364;gelnde Ver&#x017F;tand reißt aber<lb/>
doch die mei&#x017F;ten Dichter in die Romane fort, und<lb/>
wie mehrere un&#x017F;rer vorzu&#x0364;glich&#x017F;ten Dichter in der Ju¬<lb/>
gend Lieder ge&#x017F;ungen, in der vollen Manneskraft<lb/>
Schau&#x017F;piele gedichtet und bei herannahendem Alter<lb/>
Romane ge&#x017F;chrieben, &#x017F;o zeigt &#x017F;ich auch in der Ma&#x017F;&#x017F;e<lb/>
des Dichtervolks ein a&#x0364;hnlicher Stufengang. Die Ro¬<lb/>
man&#x017F;chreiber nehmen reißend u&#x0364;berhand, wie vor drei¬<lb/>
ßig Jahren die Schau&#x017F;pieldichter, und vor &#x017F;echzig<lb/>
Jahren die Lyriker.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[272/0282] ſchmeicheln, im Mittelalter aber das Herz im tiefen Grunde bewegen, bei uns muß es dem Verſtand ſchmeicheln. Die Griechen uͤberſetzten die ſchoͤne Na¬ tur, das Mittelalter den Glauben, wir uͤberſetzen unſre Wiſſenſchaft in die Poeſie. In nichts andrem beſteht das Weſen unſres Romans. Die griechiſche Weltanſicht war eine ſinnliche, die mittelalterliche eine fromme, die unſrige iſt eine verſtaͤndige. Die Poeſie hat ſich immer dieſen allgemeinen Weltanſich¬ ten verſchiedner Zeitalter angeſchloſſen, warum ſollte es die unſrige nicht auch? Die verſtaͤndige Anſicht der Dinge iſt immer eine epiſche, denn ſie ſtellt ſich am freieſten der Objecten¬ welt gegenuͤber. Darum ſagt ihr die epiſche Form auch am meiſten zu, und vorzuͤglich der Roman, weil dieſer die freieſte epiſche Form iſt. Die noch immer friſch quellende Gemuͤthskraft in unſrer Nation findet auch noch immer ihren unmit¬ telbaren Ablauf in der Lyrik und im Drama. Der immer mehr alles uͤberfluͤgelnde Verſtand reißt aber doch die meiſten Dichter in die Romane fort, und wie mehrere unſrer vorzuͤglichſten Dichter in der Ju¬ gend Lieder geſungen, in der vollen Manneskraft Schauſpiele gedichtet und bei herannahendem Alter Romane geſchrieben, ſo zeigt ſich auch in der Maſſe des Dichtervolks ein aͤhnlicher Stufengang. Die Ro¬ manſchreiber nehmen reißend uͤberhand, wie vor drei¬ ßig Jahren die Schauſpieldichter, und vor ſechzig Jahren die Lyriker.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/282
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/282>, abgerufen am 09.05.2024.