Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

auf einer gewissen Stufe eigenthümlich aus, entfal¬
tete sie uns eine Seite nach der andern. Man hat
gewöhnlich zwei Hauptperioden angenommen, die
griechische oder antike, und die mittelalterliche oder
romantische. Schlegel hat sie dadurch zu charakteri¬
siren gesucht, daß er die antike Poesie plastisch, die
romantische pittoresk nannte. Dies ist keine müßige
Vergleichung. Die Unterschiede in den Künsten über¬
haupt wiederholeu sich wieder in jeder insbesondere.
Das Gesetz ihrer äußern Verwandtschaft ist zugleich
das Gesetz ihrer innern Unterschiede. Die Poesie
verändert sich nach ihrer Verwandtschaft mit den übri¬
gen Künsten und jede ihrer Entwicklungen und ge¬
schichtlichen Perioden entspricht einer solchen Ver¬
wandtschaft. Nur muß man nicht bei der Plastik und
Malerei, nicht bei Schlegel's Andeutung stehn blei¬
ben. Es gibt neben der Poesie fünf Hauptkünste,
Baukunst, Plastik, Malerei, Musik und Schauspiel¬
kunst. Diesen entsprechen auch in der That die Pe¬
rioden und verschiednen Entwicklungen der Poesie.
Die älteste religiöse Poesie der Kosmogonien und
Mythen war wesentlich architektonisch, die spätere
griechische und römische und ausschließlich antik ge¬
nannte Poesie war plastisch. Die lyrische Poesie der
rohen Völker nach dem Untergang der antiken Welt
und vor der höchsten Cultur des Mittelalters war
musikalisch, das romantische Mittelalter selbst pitto¬
resk. Die moderne gelehrte Poesie endlich, die in
die Rollen aller Zeiten sich einstudirt, dürfen wir

auf einer gewiſſen Stufe eigenthuͤmlich aus, entfal¬
tete ſie uns eine Seite nach der andern. Man hat
gewoͤhnlich zwei Hauptperioden angenommen, die
griechiſche oder antike, und die mittelalterliche oder
romantiſche. Schlegel hat ſie dadurch zu charakteri¬
ſiren geſucht, daß er die antike Poeſie plaſtiſch, die
romantiſche pittoresk nannte. Dies iſt keine muͤßige
Vergleichung. Die Unterſchiede in den Kuͤnſten uͤber¬
haupt wiederholeu ſich wieder in jeder insbeſondere.
Das Geſetz ihrer aͤußern Verwandtſchaft iſt zugleich
das Geſetz ihrer innern Unterſchiede. Die Poeſie
veraͤndert ſich nach ihrer Verwandtſchaft mit den uͤbri¬
gen Kuͤnſten und jede ihrer Entwicklungen und ge¬
ſchichtlichen Perioden entſpricht einer ſolchen Ver¬
wandtſchaft. Nur muß man nicht bei der Plaſtik und
Malerei, nicht bei Schlegel's Andeutung ſtehn blei¬
ben. Es gibt neben der Poeſie fuͤnf Hauptkuͤnſte,
Baukunſt, Plaſtik, Malerei, Muſik und Schauſpiel¬
kunſt. Dieſen entſprechen auch in der That die Pe¬
rioden und verſchiednen Entwicklungen der Poeſie.
Die aͤlteſte religioͤſe Poeſie der Kosmogonien und
Mythen war weſentlich architektoniſch, die ſpaͤtere
griechiſche und roͤmiſche und ausſchließlich antik ge¬
nannte Poeſie war plaſtiſch. Die lyriſche Poeſie der
rohen Voͤlker nach dem Untergang der antiken Welt
und vor der hoͤchſten Cultur des Mittelalters war
muſikaliſch, das romantiſche Mittelalter ſelbſt pitto¬
resk. Die moderne gelehrte Poeſie endlich, die in
die Rollen aller Zeiten ſich einſtudirt, duͤrfen wir

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0068" n="58"/>
auf einer gewi&#x017F;&#x017F;en Stufe eigenthu&#x0364;mlich aus, entfal¬<lb/>
tete &#x017F;ie uns eine Seite nach der andern. Man hat<lb/>
gewo&#x0364;hnlich zwei Hauptperioden angenommen, die<lb/>
griechi&#x017F;che oder antike, und die mittelalterliche oder<lb/>
romanti&#x017F;che. Schlegel hat &#x017F;ie dadurch zu charakteri¬<lb/>
&#x017F;iren ge&#x017F;ucht, daß er die antike Poe&#x017F;ie pla&#x017F;ti&#x017F;ch, die<lb/>
romanti&#x017F;che pittoresk nannte. Dies i&#x017F;t keine mu&#x0364;ßige<lb/>
Vergleichung. Die Unter&#x017F;chiede in den Ku&#x0364;n&#x017F;ten u&#x0364;ber¬<lb/>
haupt wiederholeu &#x017F;ich wieder in jeder insbe&#x017F;ondere.<lb/>
Das Ge&#x017F;etz ihrer a&#x0364;ußern Verwandt&#x017F;chaft i&#x017F;t zugleich<lb/>
das Ge&#x017F;etz ihrer innern Unter&#x017F;chiede. Die Poe&#x017F;ie<lb/>
vera&#x0364;ndert &#x017F;ich nach ihrer Verwandt&#x017F;chaft mit den u&#x0364;bri¬<lb/>
gen Ku&#x0364;n&#x017F;ten und jede ihrer Entwicklungen und ge¬<lb/>
&#x017F;chichtlichen Perioden ent&#x017F;pricht einer &#x017F;olchen Ver¬<lb/>
wandt&#x017F;chaft. Nur muß man nicht bei der Pla&#x017F;tik und<lb/>
Malerei, nicht bei Schlegel's Andeutung &#x017F;tehn blei¬<lb/>
ben. Es gibt neben der Poe&#x017F;ie fu&#x0364;nf Hauptku&#x0364;n&#x017F;te,<lb/>
Baukun&#x017F;t, Pla&#x017F;tik, Malerei, Mu&#x017F;ik und Schau&#x017F;piel¬<lb/>
kun&#x017F;t. Die&#x017F;en ent&#x017F;prechen auch in der That die Pe¬<lb/>
rioden und ver&#x017F;chiednen Entwicklungen der Poe&#x017F;ie.<lb/>
Die a&#x0364;lte&#x017F;te religio&#x0364;&#x017F;e Poe&#x017F;ie der Kosmogonien und<lb/>
Mythen war we&#x017F;entlich architektoni&#x017F;ch, die &#x017F;pa&#x0364;tere<lb/>
griechi&#x017F;che und ro&#x0364;mi&#x017F;che und aus&#x017F;chließlich antik ge¬<lb/>
nannte Poe&#x017F;ie war pla&#x017F;ti&#x017F;ch. Die lyri&#x017F;che Poe&#x017F;ie der<lb/>
rohen Vo&#x0364;lker nach dem Untergang der antiken Welt<lb/>
und vor der ho&#x0364;ch&#x017F;ten Cultur des Mittelalters war<lb/>
mu&#x017F;ikali&#x017F;ch, das romanti&#x017F;che Mittelalter &#x017F;elb&#x017F;t pitto¬<lb/>
resk. Die moderne gelehrte Poe&#x017F;ie endlich, die in<lb/>
die Rollen aller Zeiten &#x017F;ich ein&#x017F;tudirt, du&#x0364;rfen wir<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[58/0068] auf einer gewiſſen Stufe eigenthuͤmlich aus, entfal¬ tete ſie uns eine Seite nach der andern. Man hat gewoͤhnlich zwei Hauptperioden angenommen, die griechiſche oder antike, und die mittelalterliche oder romantiſche. Schlegel hat ſie dadurch zu charakteri¬ ſiren geſucht, daß er die antike Poeſie plaſtiſch, die romantiſche pittoresk nannte. Dies iſt keine muͤßige Vergleichung. Die Unterſchiede in den Kuͤnſten uͤber¬ haupt wiederholeu ſich wieder in jeder insbeſondere. Das Geſetz ihrer aͤußern Verwandtſchaft iſt zugleich das Geſetz ihrer innern Unterſchiede. Die Poeſie veraͤndert ſich nach ihrer Verwandtſchaft mit den uͤbri¬ gen Kuͤnſten und jede ihrer Entwicklungen und ge¬ ſchichtlichen Perioden entſpricht einer ſolchen Ver¬ wandtſchaft. Nur muß man nicht bei der Plaſtik und Malerei, nicht bei Schlegel's Andeutung ſtehn blei¬ ben. Es gibt neben der Poeſie fuͤnf Hauptkuͤnſte, Baukunſt, Plaſtik, Malerei, Muſik und Schauſpiel¬ kunſt. Dieſen entſprechen auch in der That die Pe¬ rioden und verſchiednen Entwicklungen der Poeſie. Die aͤlteſte religioͤſe Poeſie der Kosmogonien und Mythen war weſentlich architektoniſch, die ſpaͤtere griechiſche und roͤmiſche und ausſchließlich antik ge¬ nannte Poeſie war plaſtiſch. Die lyriſche Poeſie der rohen Voͤlker nach dem Untergang der antiken Welt und vor der hoͤchſten Cultur des Mittelalters war muſikaliſch, das romantiſche Mittelalter ſelbſt pitto¬ resk. Die moderne gelehrte Poeſie endlich, die in die Rollen aller Zeiten ſich einſtudirt, duͤrfen wir

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/68
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/68>, abgerufen am 04.05.2024.