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Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

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Aus demselben Wollentuche
Schnitt man uns die Kappen und die Kleider!
Aus demselben Psalmenbuche
Sang das frische Jugendantlitz Beider!
Heinz wo bist du? Heinz wo bleibst du?
Hast zum Spiele Du mich oft gerufen
Durch die Säle, durch die Gänge,
Auf und ab der Wendeltreppe Stufen ...
Dann als einen falschen Bruder
Und Verräther hast Du mich erfunden!
Du ergrimmtest und Du warfest
In die Kerkertiefe mich gebunden ...
In der Tiefe meines Kerkers
Hab' ich ohne Mantel heut gefroren ...
Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!
Heute wird der Welt das Heil geboren!"
"Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!"
Hundert Bettler strecken jetzt die Hände:
"Gieb uns Mäntel! Gieb uns Röcke!
Sei barmherzig! Gieb uns Deine Spende!"
Eine Spange löst der Kaiser
Sacht. Sein Purpur gleitet, gleitet, gleitet
Ueber seinen sünd'gen Bruder
Und der erste Bettler steht bekleidet ...
Aus demſelben Wollentuche
Schnitt man uns die Kappen und die Kleider!
Aus demſelben Pſalmenbuche
Sang das friſche Jugendantlitz Beider!
Heinz wo biſt du? Heinz wo bleibſt du?
Haſt zum Spiele Du mich oft gerufen
Durch die Säle, durch die Gänge,
Auf und ab der Wendeltreppe Stufen ...
Dann als einen falſchen Bruder
Und Verräther haſt Du mich erfunden!
Du ergrimmteſt und Du warfeſt
In die Kerkertiefe mich gebunden ...
In der Tiefe meines Kerkers
Hab' ich ohne Mantel heut gefroren ...
Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!
Heute wird der Welt das Heil geboren!“
„Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!“
Hundert Bettler ſtrecken jetzt die Hände:
„Gieb uns Mäntel! Gieb uns Röcke!
Sei barmherzig! Gieb uns Deine Spende!“
Eine Spange löſt der Kaiſer
Sacht. Sein Purpur gleitet, gleitet, gleitet
Ueber ſeinen ſünd'gen Bruder
Und der erſte Bettler ſteht bekleidet ...
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[260/0274] Aus demſelben Wollentuche Schnitt man uns die Kappen und die Kleider! Aus demſelben Pſalmenbuche Sang das friſche Jugendantlitz Beider! Heinz wo biſt du? Heinz wo bleibſt du? Haſt zum Spiele Du mich oft gerufen Durch die Säle, durch die Gänge, Auf und ab der Wendeltreppe Stufen ... Dann als einen falſchen Bruder Und Verräther haſt Du mich erfunden! Du ergrimmteſt und Du warfeſt In die Kerkertiefe mich gebunden ... In der Tiefe meines Kerkers Hab' ich ohne Mantel heut gefroren ... Eia Weihnacht! Eia Weihnacht! Heute wird der Welt das Heil geboren!“ „Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!“ Hundert Bettler ſtrecken jetzt die Hände: „Gieb uns Mäntel! Gieb uns Röcke! Sei barmherzig! Gieb uns Deine Spende!“ Eine Spange löſt der Kaiſer Sacht. Sein Purpur gleitet, gleitet, gleitet Ueber ſeinen ſünd'gen Bruder Und der erſte Bettler ſteht bekleidet ...

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/274>, abgerufen am 28.04.2024.