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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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V. Verweile! -- Galerien -- wiederholte Reisen.
Linien haben Zeit, sich fühlen zu lassen; man belauscht ihre
Bewegungen bis auf die zartesten Biegungen; die Höhen
offenbaren, verschieden beleuchtet nach Tag und Stunde, die
reichste Mannigfaltigkeit und Fülle des Ausdrucks. Auf
jede Berghalde schreibt sich ein Gedicht, jede Stunde vervoll-
ständigt es und bringt ihr Ereigniß: die eine einen Sonnen-
blick, die andere einen Windstoß, eine Wolkengruppe, ein
Gewitter, einen stürzenden Block, eine Lawine, die Erweite-
rung einer Eisspalte, eine Bewegung des Gletschers, ein
inneres Krachen. Beim bloßen Vorbeieilen läßt sich nur
ein Vers der Epopöe belauschen, bei oft wiederholtem Besuche
jedoch enthüllen sich ganze Gesänge, und die Einbildungskraft
ist bemüht, das ganze Gedicht wiederherzustellen."

Auch mit Gemäldegalerien, beiläufig bemerkt,
halte ich es (als Tourist von Fach aber Kunstdilettant) gern
ähnlich: ich laufe nicht mit den Augen flüchtig von Nummer
zu Nummer jedes Saales, wie Kinder ein Bilderbuch durch-
blättern, noch verweile ich mit Kennermiene übermäßig lange
bei Einzelnem, sondern hole mir vorher aus Büchern oder
von Sachkundigen Rath über das Betrachtenswertheste, be-
sichtige dies wiederholt mit Muße und Samm-
lung
, und befasse mich mit dem Uebrigen gar nicht. Fühle
ich die Aufmerksamkeit oder die Augen ermatten, so sehe ich
es keineswegs wie so Viele für eine Ehrensache an, die vorher
bestimmte Zeit einzuhalten, sondern gönne mir entweder eine
Erholungspause im Freien, oder breche für den Tag ganz ab.
Erzwungenes, unlustiges, mechanisches Abdreschen eines Pen-
sums bleibt an und für sich fruchtlos, wirkt erschlaffend und
setzt sich leicht zur Gewohnheit fest.

Selbst die Wiederholung ganzer Reisen ver-
dient empfohlen zu werden, zumal wenn sie besonders reich
ausgestatteten Ländern gilt; denn erst nachdem der blendende,
verwirrende Reiz der Neuheit geschwunden, wird die Be-
obachtung unbefangener, gegenständlicher und die Zeitein-
theilung entsprechender. Daß Mancher "sehr enttäuscht"

V. Verweile! — Galerien — wiederholte Reiſen.
Linien haben Zeit, ſich fühlen zu laſſen; man belauſcht ihre
Bewegungen bis auf die zarteſten Biegungen; die Höhen
offenbaren, verſchieden beleuchtet nach Tag und Stunde, die
reichſte Mannigfaltigkeit und Fülle des Ausdrucks. Auf
jede Berghalde ſchreibt ſich ein Gedicht, jede Stunde vervoll-
ſtändigt es und bringt ihr Ereigniß: die eine einen Sonnen-
blick, die andere einen Windſtoß, eine Wolkengruppe, ein
Gewitter, einen ſtürzenden Block, eine Lawine, die Erweite-
rung einer Eisſpalte, eine Bewegung des Gletſchers, ein
inneres Krachen. Beim bloßen Vorbeieilen läßt ſich nur
ein Vers der Epopöe belauſchen, bei oft wiederholtem Beſuche
jedoch enthüllen ſich ganze Geſänge, und die Einbildungskraft
iſt bemüht, das ganze Gedicht wiederherzuſtellen.“

Auch mit Gemäldegalerien, beiläufig bemerkt,
halte ich es (als Touriſt von Fach aber Kunſtdilettant) gern
ähnlich: ich laufe nicht mit den Augen flüchtig von Nummer
zu Nummer jedes Saales, wie Kinder ein Bilderbuch durch-
blättern, noch verweile ich mit Kennermiene übermäßig lange
bei Einzelnem, ſondern hole mir vorher aus Büchern oder
von Sachkundigen Rath über das Betrachtenswertheſte, be-
ſichtige dies wiederholt mit Muße und Samm-
lung
, und befaſſe mich mit dem Uebrigen gar nicht. Fühle
ich die Aufmerkſamkeit oder die Augen ermatten, ſo ſehe ich
es keineswegs wie ſo Viele für eine Ehrenſache an, die vorher
beſtimmte Zeit einzuhalten, ſondern gönne mir entweder eine
Erholungspauſe im Freien, oder breche für den Tag ganz ab.
Erzwungenes, unluſtiges, mechaniſches Abdreſchen eines Pen-
ſums bleibt an und für ſich fruchtlos, wirkt erſchlaffend und
ſetzt ſich leicht zur Gewohnheit feſt.

Selbſt die Wiederholung ganzer Reiſen ver-
dient empfohlen zu werden, zumal wenn ſie beſonders reich
ausgeſtatteten Ländern gilt; denn erſt nachdem der blendende,
verwirrende Reiz der Neuheit geſchwunden, wird die Be-
obachtung unbefangener, gegenſtändlicher und die Zeitein-
theilung entſprechender. Daß Mancher „ſehr enttäuſcht“

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[132/0146] V. Verweile! — Galerien — wiederholte Reiſen. Linien haben Zeit, ſich fühlen zu laſſen; man belauſcht ihre Bewegungen bis auf die zarteſten Biegungen; die Höhen offenbaren, verſchieden beleuchtet nach Tag und Stunde, die reichſte Mannigfaltigkeit und Fülle des Ausdrucks. Auf jede Berghalde ſchreibt ſich ein Gedicht, jede Stunde vervoll- ſtändigt es und bringt ihr Ereigniß: die eine einen Sonnen- blick, die andere einen Windſtoß, eine Wolkengruppe, ein Gewitter, einen ſtürzenden Block, eine Lawine, die Erweite- rung einer Eisſpalte, eine Bewegung des Gletſchers, ein inneres Krachen. Beim bloßen Vorbeieilen läßt ſich nur ein Vers der Epopöe belauſchen, bei oft wiederholtem Beſuche jedoch enthüllen ſich ganze Geſänge, und die Einbildungskraft iſt bemüht, das ganze Gedicht wiederherzuſtellen.“ Auch mit Gemäldegalerien, beiläufig bemerkt, halte ich es (als Touriſt von Fach aber Kunſtdilettant) gern ähnlich: ich laufe nicht mit den Augen flüchtig von Nummer zu Nummer jedes Saales, wie Kinder ein Bilderbuch durch- blättern, noch verweile ich mit Kennermiene übermäßig lange bei Einzelnem, ſondern hole mir vorher aus Büchern oder von Sachkundigen Rath über das Betrachtenswertheſte, be- ſichtige dies wiederholt mit Muße und Samm- lung, und befaſſe mich mit dem Uebrigen gar nicht. Fühle ich die Aufmerkſamkeit oder die Augen ermatten, ſo ſehe ich es keineswegs wie ſo Viele für eine Ehrenſache an, die vorher beſtimmte Zeit einzuhalten, ſondern gönne mir entweder eine Erholungspauſe im Freien, oder breche für den Tag ganz ab. Erzwungenes, unluſtiges, mechaniſches Abdreſchen eines Pen- ſums bleibt an und für ſich fruchtlos, wirkt erſchlaffend und ſetzt ſich leicht zur Gewohnheit feſt. Selbſt die Wiederholung ganzer Reiſen ver- dient empfohlen zu werden, zumal wenn ſie beſonders reich ausgeſtatteten Ländern gilt; denn erſt nachdem der blendende, verwirrende Reiz der Neuheit geſchwunden, wird die Be- obachtung unbefangener, gegenſtändlicher und die Zeitein- theilung entſprechender. Daß Mancher „ſehr enttäuſcht“

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/146>, abgerufen am 15.05.2024.