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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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hungen ihren Geschmack. Sie hatten nun den
Winter über die angenehmste Beschäftigung, in-
dem ihre Zeit zwischen Lesen und Musik unver-
merkt dahin floß. Dabey versäumten sie ihre ei-
gentliche Wissenschaften nicht, indem P. Philipp
sie durch seinen Rath in den Schranken hielt, und
sie das Angenehme dem Nützlichen unterordnen
lehrte.

Am Charfreytage wurde in dem Städtchen,
wie in andern österreichischen Städten, die Kreu-
zigung Christi von den Bürgern mit grossem Pomp
vorgestellt. Mehr als dreyhundert Bauren ka-
men vom Land herein, um ein Kreuz zu schleppen,
oder sich zu geisseln. Siegwart, der mit seinen
Freunden dieß mit ansah, konnte nicht begreifen,
wie Menschen, an dem Tage, da Christus an ihrer
Statt gelitten hatte, sich noch einfallen lassen könn-
ten, durch eigne blutige Büssungen Gott genug zu
thun? Er ärgerte sich, wie er den Misbrauch sah,
der mit der ernsthaftesten und wichtigsten Begeben-
heit für die Menschheit, getrieben ward; da der
verkappte Christus, ein Baurenkerl, zu den Bau-
renmädchen, oder seinen Kammeraden lachte; und
da sogar einer von den Schächern vom Kreuz her-
ab einem andern Bauren zurief: Heh, Hans!



hungen ihren Geſchmack. Sie hatten nun den
Winter uͤber die angenehmſte Beſchaͤftigung, in-
dem ihre Zeit zwiſchen Leſen und Muſik unver-
merkt dahin floß. Dabey verſaͤumten ſie ihre ei-
gentliche Wiſſenſchaften nicht, indem P. Philipp
ſie durch ſeinen Rath in den Schranken hielt, und
ſie das Angenehme dem Nuͤtzlichen unterordnen
lehrte.

Am Charfreytage wurde in dem Staͤdtchen,
wie in andern oͤſterreichiſchen Staͤdten, die Kreu-
zigung Chriſti von den Buͤrgern mit groſſem Pomp
vorgeſtellt. Mehr als dreyhundert Bauren ka-
men vom Land herein, um ein Kreuz zu ſchleppen,
oder ſich zu geiſſeln. Siegwart, der mit ſeinen
Freunden dieß mit anſah, konnte nicht begreifen,
wie Menſchen, an dem Tage, da Chriſtus an ihrer
Statt gelitten hatte, ſich noch einfallen laſſen koͤnn-
ten, durch eigne blutige Buͤſſungen Gott genug zu
thun? Er aͤrgerte ſich, wie er den Misbrauch ſah,
der mit der ernſthafteſten und wichtigſten Begeben-
heit fuͤr die Menſchheit, getrieben ward; da der
verkappte Chriſtus, ein Baurenkerl, zu den Bau-
renmaͤdchen, oder ſeinen Kammeraden lachte; und
da ſogar einer von den Schaͤchern vom Kreuz her-
ab einem andern Bauren zurief: Heh, Hans!

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[329/0333] hungen ihren Geſchmack. Sie hatten nun den Winter uͤber die angenehmſte Beſchaͤftigung, in- dem ihre Zeit zwiſchen Leſen und Muſik unver- merkt dahin floß. Dabey verſaͤumten ſie ihre ei- gentliche Wiſſenſchaften nicht, indem P. Philipp ſie durch ſeinen Rath in den Schranken hielt, und ſie das Angenehme dem Nuͤtzlichen unterordnen lehrte. Am Charfreytage wurde in dem Staͤdtchen, wie in andern oͤſterreichiſchen Staͤdten, die Kreu- zigung Chriſti von den Buͤrgern mit groſſem Pomp vorgeſtellt. Mehr als dreyhundert Bauren ka- men vom Land herein, um ein Kreuz zu ſchleppen, oder ſich zu geiſſeln. Siegwart, der mit ſeinen Freunden dieß mit anſah, konnte nicht begreifen, wie Menſchen, an dem Tage, da Chriſtus an ihrer Statt gelitten hatte, ſich noch einfallen laſſen koͤnn- ten, durch eigne blutige Buͤſſungen Gott genug zu thun? Er aͤrgerte ſich, wie er den Misbrauch ſah, der mit der ernſthafteſten und wichtigſten Begeben- heit fuͤr die Menſchheit, getrieben ward; da der verkappte Chriſtus, ein Baurenkerl, zu den Bau- renmaͤdchen, oder ſeinen Kammeraden lachte; und da ſogar einer von den Schaͤchern vom Kreuz her- ab einem andern Bauren zurief: Heh, Hans!

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/333>, abgerufen am 14.05.2024.