Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.
deren Feuer und Beredsamkeit, wie er glaubte, Menschen und Thiere, deren sich sein Patron auch angenommen hatte, zur Ueberzeugung hinreissen müste. Er hofte, auch einmal des Eindrucks der Stigmatum wehrt zu werden, weil er eben das thun zu können hofte, was Franz in seinem heili- gen Eifer gethan hatte. Nichts beschäftiget das Herz mehr, als Chimären und Entwürfe, die man in die Zukunft baut. Man steigt von Einem auf- gethürmten Schloß aufs andere, und sieht mit Ver- achtung auf die übrigen Menschenkinder herab, die im Staube kriechen, und den ordentlichen Weg ge- hen. Alle Hindernisse schwinden weg; man sieht nichts vor sich, was im Wege stehen könnte; oder schreitet mit Riesenschritten drüber weg, und sieht mit Wolgefallen auf die zurückgelegte steile Bahn herab. Einem Schwärmer ist in seinem Sinne alles möglich; und kein Herz ist mehr zur Schwär- merey geneigt, als ein solches, das, bey einer leb- haften Einbildungskraft ein zartes moralisches Ge- fühl hat, und es mit den Menschen, seinen Brü- dern, gut meynt. So giengs unserm jungen Sieg- wart; er sah lauter Hülfsbedürftige vor sich, sah schon ihre Thränen rinnen, hörte schon den Dank deren Feuer und Beredſamkeit, wie er glaubte, Menſchen und Thiere, deren ſich ſein Patron auch angenommen hatte, zur Ueberzeugung hinreiſſen muͤſte. Er hofte, auch einmal des Eindrucks der Stigmatum wehrt zu werden, weil er eben das thun zu koͤnnen hofte, was Franz in ſeinem heili- gen Eifer gethan hatte. Nichts beſchaͤftiget das Herz mehr, als Chimaͤren und Entwuͤrfe, die man in die Zukunft baut. Man ſteigt von Einem auf- gethuͤrmten Schloß aufs andere, und ſieht mit Ver- achtung auf die uͤbrigen Menſchenkinder herab, die im Staube kriechen, und den ordentlichen Weg ge- hen. Alle Hinderniſſe ſchwinden weg; man ſieht nichts vor ſich, was im Wege ſtehen koͤnnte; oder ſchreitet mit Rieſenſchritten druͤber weg, und ſieht mit Wolgefallen auf die zuruͤckgelegte ſteile Bahn herab. Einem Schwaͤrmer iſt in ſeinem Sinne alles moͤglich; und kein Herz iſt mehr zur Schwaͤr- merey geneigt, als ein ſolches, das, bey einer leb- haften Einbildungskraft ein zartes moraliſches Ge- fuͤhl hat, und es mit den Menſchen, ſeinen Bruͤ- dern, gut meynt. So giengs unſerm jungen Sieg- wart; er ſah lauter Huͤlfsbeduͤrftige vor ſich, ſah ſchon ihre Thraͤnen rinnen, hoͤrte ſchon den Dank <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0055" n="51"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> deren Feuer und Beredſamkeit, wie er glaubte,<lb/> Menſchen und Thiere, deren ſich ſein Patron auch<lb/> angenommen hatte, zur Ueberzeugung hinreiſſen<lb/> muͤſte. Er hofte, auch einmal des Eindrucks der<lb/><hi rendition="#aq">Stigmatum</hi> wehrt zu werden, weil er eben das<lb/> thun zu koͤnnen hofte, was Franz in ſeinem heili-<lb/> gen Eifer gethan hatte. Nichts beſchaͤftiget das<lb/> Herz mehr, als Chimaͤren und Entwuͤrfe, die man<lb/> in die Zukunft baut. Man ſteigt von Einem auf-<lb/> gethuͤrmten Schloß aufs andere, und ſieht mit Ver-<lb/> achtung auf die uͤbrigen Menſchenkinder herab, die<lb/> im Staube kriechen, und den ordentlichen Weg ge-<lb/> hen. Alle Hinderniſſe ſchwinden weg; man ſieht<lb/> nichts vor ſich, was im Wege ſtehen koͤnnte; oder<lb/> ſchreitet mit Rieſenſchritten druͤber weg, und ſieht<lb/> mit Wolgefallen auf die zuruͤckgelegte ſteile Bahn<lb/> herab. Einem Schwaͤrmer iſt in ſeinem Sinne<lb/> alles moͤglich; und kein Herz iſt mehr zur Schwaͤr-<lb/> merey geneigt, als ein ſolches, das, bey einer leb-<lb/> haften Einbildungskraft ein zartes moraliſches Ge-<lb/> fuͤhl hat, und es mit den Menſchen, ſeinen Bruͤ-<lb/> dern, gut meynt. So giengs unſerm jungen <hi rendition="#fr">Sieg-<lb/> wart;</hi> er ſah lauter Huͤlfsbeduͤrftige vor ſich, ſah<lb/> ſchon ihre Thraͤnen rinnen, hoͤrte ſchon den Dank<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [51/0055]
deren Feuer und Beredſamkeit, wie er glaubte,
Menſchen und Thiere, deren ſich ſein Patron auch
angenommen hatte, zur Ueberzeugung hinreiſſen
muͤſte. Er hofte, auch einmal des Eindrucks der
Stigmatum wehrt zu werden, weil er eben das
thun zu koͤnnen hofte, was Franz in ſeinem heili-
gen Eifer gethan hatte. Nichts beſchaͤftiget das
Herz mehr, als Chimaͤren und Entwuͤrfe, die man
in die Zukunft baut. Man ſteigt von Einem auf-
gethuͤrmten Schloß aufs andere, und ſieht mit Ver-
achtung auf die uͤbrigen Menſchenkinder herab, die
im Staube kriechen, und den ordentlichen Weg ge-
hen. Alle Hinderniſſe ſchwinden weg; man ſieht
nichts vor ſich, was im Wege ſtehen koͤnnte; oder
ſchreitet mit Rieſenſchritten druͤber weg, und ſieht
mit Wolgefallen auf die zuruͤckgelegte ſteile Bahn
herab. Einem Schwaͤrmer iſt in ſeinem Sinne
alles moͤglich; und kein Herz iſt mehr zur Schwaͤr-
merey geneigt, als ein ſolches, das, bey einer leb-
haften Einbildungskraft ein zartes moraliſches Ge-
fuͤhl hat, und es mit den Menſchen, ſeinen Bruͤ-
dern, gut meynt. So giengs unſerm jungen Sieg-
wart; er ſah lauter Huͤlfsbeduͤrftige vor ſich, ſah
ſchon ihre Thraͤnen rinnen, hoͤrte ſchon den Dank
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
| URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776 |
| URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/55 |
| Zitationshilfe: | Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/55>, abgerufen am 30.04.2024. |
