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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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meinen Augen eine Aufgabe zu lösen, die ich ihm un-
ter einem unverfänglichen Vorwande zuschieben wollte.
Ich hatte meine Gedanken hiezu schriftlich angedeutet,
erklärte mich ihm auch mündlich darüber, und er eilte
sogleich mit der Hoffnung weg, mir seinen Versuch in
einigen Tagen zu zeigen. Aber wer schildert meine
Freude, als schon am Abende des folgenden Tages
die edelsten Umrisse zu der angegebenen Gruppe aus
dem Statius vor mir lagen, in der ganzen Auffassung
des Gedankens weit kühner und sinnreicher als der
Umfang meiner Imagination jemals reichte. Manche
flüchtige Bemerkung des närrischen Menschen bewies
überdieß unwidersprechlich, daß er mit Leib und Seele
bei der Zeichnung gewesen. Auch dieser Entwurf und
in der Folge noch der eine und andere ward mein
Eigenthum; allein plötzlich blieb der Fremde aus und
eigensinniger Weise hatte er mir weder Namen noch
sonstige Adresse zurückgelassen. Nach und nach fühlte
ich unwiderstehliche Lust, drei bis vier der vorhandenen
Blätter vergrößert in Wasserfarbe auf's Neue zu skizzi-
ren und sofort in Oel darzustellen, wobei denn bald
die liebevollste wechselseitige Durchdringung meiner
Manier und jenes fremden Genius Statt fand, so
daß die Entscheidung so leicht nicht seyn möchte, wenn
nunmehr bei den völlig ausgemalten Tableaus ein
zwiefaches und getrenntes Verdienst gegen einander
abgewogen werden sollte. Vor einem Freunde und
Schwager darf ich dieses selbstgefällige Bekenntniß gar

meinen Augen eine Aufgabe zu löſen, die ich ihm un-
ter einem unverfänglichen Vorwande zuſchieben wollte.
Ich hatte meine Gedanken hiezu ſchriftlich angedeutet,
erklärte mich ihm auch mündlich darüber, und er eilte
ſogleich mit der Hoffnung weg, mir ſeinen Verſuch in
einigen Tagen zu zeigen. Aber wer ſchildert meine
Freude, als ſchon am Abende des folgenden Tages
die edelſten Umriſſe zu der angegebenen Gruppe aus
dem Statius vor mir lagen, in der ganzen Auffaſſung
des Gedankens weit kühner und ſinnreicher als der
Umfang meiner Imagination jemals reichte. Manche
flüchtige Bemerkung des närriſchen Menſchen bewies
überdieß unwiderſprechlich, daß er mit Leib und Seele
bei der Zeichnung geweſen. Auch dieſer Entwurf und
in der Folge noch der eine und andere ward mein
Eigenthum; allein plötzlich blieb der Fremde aus und
eigenſinniger Weiſe hatte er mir weder Namen noch
ſonſtige Adreſſe zurückgelaſſen. Nach und nach fühlte
ich unwiderſtehliche Luſt, drei bis vier der vorhandenen
Blätter vergrößert in Waſſerfarbe auf’s Neue zu ſkizzi-
ren und ſofort in Oel darzuſtellen, wobei denn bald
die liebevollſte wechſelſeitige Durchdringung meiner
Manier und jenes fremden Genius Statt fand, ſo
daß die Entſcheidung ſo leicht nicht ſeyn möchte, wenn
nunmehr bei den völlig ausgemalten Tableaus ein
zwiefaches und getrenntes Verdienſt gegen einander
abgewogen werden ſollte. Vor einem Freunde und
Schwager darf ich dieſes ſelbſtgefällige Bekenntniß gar

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[18/0026] meinen Augen eine Aufgabe zu löſen, die ich ihm un- ter einem unverfänglichen Vorwande zuſchieben wollte. Ich hatte meine Gedanken hiezu ſchriftlich angedeutet, erklärte mich ihm auch mündlich darüber, und er eilte ſogleich mit der Hoffnung weg, mir ſeinen Verſuch in einigen Tagen zu zeigen. Aber wer ſchildert meine Freude, als ſchon am Abende des folgenden Tages die edelſten Umriſſe zu der angegebenen Gruppe aus dem Statius vor mir lagen, in der ganzen Auffaſſung des Gedankens weit kühner und ſinnreicher als der Umfang meiner Imagination jemals reichte. Manche flüchtige Bemerkung des närriſchen Menſchen bewies überdieß unwiderſprechlich, daß er mit Leib und Seele bei der Zeichnung geweſen. Auch dieſer Entwurf und in der Folge noch der eine und andere ward mein Eigenthum; allein plötzlich blieb der Fremde aus und eigenſinniger Weiſe hatte er mir weder Namen noch ſonſtige Adreſſe zurückgelaſſen. Nach und nach fühlte ich unwiderſtehliche Luſt, drei bis vier der vorhandenen Blätter vergrößert in Waſſerfarbe auf’s Neue zu ſkizzi- ren und ſofort in Oel darzuſtellen, wobei denn bald die liebevollſte wechſelſeitige Durchdringung meiner Manier und jenes fremden Genius Statt fand, ſo daß die Entſcheidung ſo leicht nicht ſeyn möchte, wenn nunmehr bei den völlig ausgemalten Tableaus ein zwiefaches und getrenntes Verdienſt gegen einander abgewogen werden ſollte. Vor einem Freunde und Schwager darf ich dieſes ſelbſtgefällige Bekenntniß gar

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/26>, abgerufen am 28.04.2024.