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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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In der Gegend von H ** den 22. Mai.
Schon seit Wochen fühle ich meine Gesundheit
kräftiger als jemals; aber seit wenigen Tagen streckt
auch der Geist seine erschlafft gewesenen Organe so be-
gierig und arbeitsdurstig wieder aus, daß ich ordentlich
über mich selbst erstaune. Ich spüre, es will sich ein
neues Leben hervordrängen, es will ein Wunder in mir
werden. Ich wüßte Niemanden, dem ich die Ursache
dieser mächtigen Revolution, die Geschichte der lezten
vier Tage, so vertraulich mittheilen könnte, als diesen
verschwiegenen Blättern. Aber fürwahr, ich thue es
beinahe bloß in der grillenhaften Besorgniß, daß mein
gegenwärtiges Glück, ja daß mir selbst die Erinnerung
an diese außerordentliche Zeit entrissen werden könne.

Am 17. Mai trat ich von G. aus eine kleine Ex-
kursion an, und zwar allein, weil mein Freund verhin-
dert war. Ich fand etwas Reizendes in dem Gedanken,
so wie zuweilen im Vaterland, jezt auch auf böhmischem
Boden einmal ohne bestimmtes Ziel und besondere Ab-
sicht auszufliegen, nur dachte ich an das schöne Gebirge
gegen *** zu, das ich vom Fenster aus als dunkel-
blauen Streif gesehen hatte. Ich schlug also ungefähr
diese Richtung ein und ließ mich nach Bequemlichkeit
vom nächsten besten Wege fortziehen, verweilte bei Al-
lem, was mir neu und merkwürdig war, machte meine
Beobachtungen an Menschen und Natur, zog mein
Skizzenbuch hervor, zeichnete oder las wie mir's einkam,
und ließ es mir mitunter in den dürftigsten Dorfschen-

In der Gegend von H ** den 22. Mai.
Schon ſeit Wochen fühle ich meine Geſundheit
kräftiger als jemals; aber ſeit wenigen Tagen ſtreckt
auch der Geiſt ſeine erſchlafft geweſenen Organe ſo be-
gierig und arbeitsdurſtig wieder aus, daß ich ordentlich
über mich ſelbſt erſtaune. Ich ſpüre, es will ſich ein
neues Leben hervordrängen, es will ein Wunder in mir
werden. Ich wüßte Niemanden, dem ich die Urſache
dieſer mächtigen Revolution, die Geſchichte der lezten
vier Tage, ſo vertraulich mittheilen könnte, als dieſen
verſchwiegenen Blättern. Aber fürwahr, ich thue es
beinahe bloß in der grillenhaften Beſorgniß, daß mein
gegenwärtiges Glück, ja daß mir ſelbſt die Erinnerung
an dieſe außerordentliche Zeit entriſſen werden könne.

Am 17. Mai trat ich von G. aus eine kleine Ex-
kurſion an, und zwar allein, weil mein Freund verhin-
dert war. Ich fand etwas Reizendes in dem Gedanken,
ſo wie zuweilen im Vaterland, jezt auch auf böhmiſchem
Boden einmal ohne beſtimmtes Ziel und beſondere Ab-
ſicht auszufliegen, nur dachte ich an das ſchöne Gebirge
gegen *** zu, das ich vom Fenſter aus als dunkel-
blauen Streif geſehen hatte. Ich ſchlug alſo ungefähr
dieſe Richtung ein und ließ mich nach Bequemlichkeit
vom nächſten beſten Wege fortziehen, verweilte bei Al-
lem, was mir neu und merkwürdig war, machte meine
Beobachtungen an Menſchen und Natur, zog mein
Skizzenbuch hervor, zeichnete oder las wie mir’s einkam,
und ließ es mir mitunter in den dürftigſten Dorfſchen-

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[300/0308] In der Gegend von H ** den 22. Mai. Schon ſeit Wochen fühle ich meine Geſundheit kräftiger als jemals; aber ſeit wenigen Tagen ſtreckt auch der Geiſt ſeine erſchlafft geweſenen Organe ſo be- gierig und arbeitsdurſtig wieder aus, daß ich ordentlich über mich ſelbſt erſtaune. Ich ſpüre, es will ſich ein neues Leben hervordrängen, es will ein Wunder in mir werden. Ich wüßte Niemanden, dem ich die Urſache dieſer mächtigen Revolution, die Geſchichte der lezten vier Tage, ſo vertraulich mittheilen könnte, als dieſen verſchwiegenen Blättern. Aber fürwahr, ich thue es beinahe bloß in der grillenhaften Beſorgniß, daß mein gegenwärtiges Glück, ja daß mir ſelbſt die Erinnerung an dieſe außerordentliche Zeit entriſſen werden könne. Am 17. Mai trat ich von G. aus eine kleine Ex- kurſion an, und zwar allein, weil mein Freund verhin- dert war. Ich fand etwas Reizendes in dem Gedanken, ſo wie zuweilen im Vaterland, jezt auch auf böhmiſchem Boden einmal ohne beſtimmtes Ziel und beſondere Ab- ſicht auszufliegen, nur dachte ich an das ſchöne Gebirge gegen *** zu, das ich vom Fenſter aus als dunkel- blauen Streif geſehen hatte. Ich ſchlug alſo ungefähr dieſe Richtung ein und ließ mich nach Bequemlichkeit vom nächſten beſten Wege fortziehen, verweilte bei Al- lem, was mir neu und merkwürdig war, machte meine Beobachtungen an Menſchen und Natur, zog mein Skizzenbuch hervor, zeichnete oder las wie mir’s einkam, und ließ es mir mitunter in den dürftigſten Dorfſchen-

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/308>, abgerufen am 03.05.2024.