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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.

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Die moralischen Vortheile
Flachs was wir noch hatten, war bald aufgesponnen; das
Pfund Brodt galt ein Stück Garn, und unser waren nur drey
die spinnen konnten, und neune die essen wollten. Zur Ar-
beit außer dem Hause war keine Gelegenheit, und wie Weih-
nachten heran kam, war unser Flachs versponnen und verzehrt;
ach ein trauriger Weihnachten! Meine Frau hatte ihre Röcke
und Mützen bereits versetzt; wir konnten nicht zu Gottes Kir-
chen gehn. Sonst war nichts im Hause, woraus wir einiges
Geld hätten lösen können, außer einer Kuh; ich wollte sie
wegführen sie zu verkaufen. Aber meine Frau und Kinder
hielten sie fest umarmt, und wir schrien alle und standen so
eine lange traurige Weile. Endlich gieng ich fort, um den
Jammer nicht länger zu erdulden. Ich gieng zwey Stunden
in der Absicht, die Meinigen nicht Hungers sterben zu sehen.
Aber es war immer als wenn mich sechs Pferde zurück zogen;
ich mußte wieder zu den Meinigen; und nun kam ich einen
angefülleten Backofen vorüber, und die Noth, der süße Ge-
ruch, und die Gelegenheit machten mich zum Diebe. So
sauer ist es mir geworden! Bey diesem gestohlenen Brodte
feyerten wir unser Christfest. Aber nun stand ich des Mor-
gens vor Tage auf, nahm meine Kuh, und brachte sie dem
Manne, welchem ich das Brodt gestohlen hatte. Mit tausend
Thränen bekannte ich ihm meine That, und der Mann, den
ich als einen harten und geitzigen Mann gekannt hatte, gab sie
mir wieder und einen Scheffel Rocken dabey. Seitdem hat
mir mein Wirth, den ich die vorjährige Heuer noch schuldig
bin, und den ich vorhin nicht ansprechen mochte, weil er selbst
nichts übrig hat, ausgeholfen. Ach Herr! es giebt doch noch
Mitleiden in der Welt, es giebt noch heimliche Tugenden die
man nur zur Zeit der Noth erkennt!

Die

Die moraliſchen Vortheile
Flachs was wir noch hatten, war bald aufgeſponnen; das
Pfund Brodt galt ein Stuͤck Garn, und unſer waren nur drey
die ſpinnen konnten, und neune die eſſen wollten. Zur Ar-
beit außer dem Hauſe war keine Gelegenheit, und wie Weih-
nachten heran kam, war unſer Flachs verſponnen und verzehrt;
ach ein trauriger Weihnachten! Meine Frau hatte ihre Roͤcke
und Muͤtzen bereits verſetzt; wir konnten nicht zu Gottes Kir-
chen gehn. Sonſt war nichts im Hauſe, woraus wir einiges
Geld haͤtten loͤſen koͤnnen, außer einer Kuh; ich wollte ſie
wegfuͤhren ſie zu verkaufen. Aber meine Frau und Kinder
hielten ſie feſt umarmt, und wir ſchrien alle und ſtanden ſo
eine lange traurige Weile. Endlich gieng ich fort, um den
Jammer nicht laͤnger zu erdulden. Ich gieng zwey Stunden
in der Abſicht, die Meinigen nicht Hungers ſterben zu ſehen.
Aber es war immer als wenn mich ſechs Pferde zuruͤck zogen;
ich mußte wieder zu den Meinigen; und nun kam ich einen
angefuͤlleten Backofen voruͤber, und die Noth, der ſuͤße Ge-
ruch, und die Gelegenheit machten mich zum Diebe. So
ſauer iſt es mir geworden! Bey dieſem geſtohlenen Brodte
feyerten wir unſer Chriſtfeſt. Aber nun ſtand ich des Mor-
gens vor Tage auf, nahm meine Kuh, und brachte ſie dem
Manne, welchem ich das Brodt geſtohlen hatte. Mit tauſend
Thraͤnen bekannte ich ihm meine That, und der Mann, den
ich als einen harten und geitzigen Mann gekannt hatte, gab ſie
mir wieder und einen Scheffel Rocken dabey. Seitdem hat
mir mein Wirth, den ich die vorjaͤhrige Heuer noch ſchuldig
bin, und den ich vorhin nicht anſprechen mochte, weil er ſelbſt
nichts uͤbrig hat, ausgeholfen. Ach Herr! es giebt doch noch
Mitleiden in der Welt, es giebt noch heimliche Tugenden die
man nur zur Zeit der Noth erkennt!

Die
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[34/0052] Die moraliſchen Vortheile Flachs was wir noch hatten, war bald aufgeſponnen; das Pfund Brodt galt ein Stuͤck Garn, und unſer waren nur drey die ſpinnen konnten, und neune die eſſen wollten. Zur Ar- beit außer dem Hauſe war keine Gelegenheit, und wie Weih- nachten heran kam, war unſer Flachs verſponnen und verzehrt; ach ein trauriger Weihnachten! Meine Frau hatte ihre Roͤcke und Muͤtzen bereits verſetzt; wir konnten nicht zu Gottes Kir- chen gehn. Sonſt war nichts im Hauſe, woraus wir einiges Geld haͤtten loͤſen koͤnnen, außer einer Kuh; ich wollte ſie wegfuͤhren ſie zu verkaufen. Aber meine Frau und Kinder hielten ſie feſt umarmt, und wir ſchrien alle und ſtanden ſo eine lange traurige Weile. Endlich gieng ich fort, um den Jammer nicht laͤnger zu erdulden. Ich gieng zwey Stunden in der Abſicht, die Meinigen nicht Hungers ſterben zu ſehen. Aber es war immer als wenn mich ſechs Pferde zuruͤck zogen; ich mußte wieder zu den Meinigen; und nun kam ich einen angefuͤlleten Backofen voruͤber, und die Noth, der ſuͤße Ge- ruch, und die Gelegenheit machten mich zum Diebe. So ſauer iſt es mir geworden! Bey dieſem geſtohlenen Brodte feyerten wir unſer Chriſtfeſt. Aber nun ſtand ich des Mor- gens vor Tage auf, nahm meine Kuh, und brachte ſie dem Manne, welchem ich das Brodt geſtohlen hatte. Mit tauſend Thraͤnen bekannte ich ihm meine That, und der Mann, den ich als einen harten und geitzigen Mann gekannt hatte, gab ſie mir wieder und einen Scheffel Rocken dabey. Seitdem hat mir mein Wirth, den ich die vorjaͤhrige Heuer noch ſchuldig bin, und den ich vorhin nicht anſprechen mochte, weil er ſelbſt nichts uͤbrig hat, ausgeholfen. Ach Herr! es giebt doch noch Mitleiden in der Welt, es giebt noch heimliche Tugenden die man nur zur Zeit der Noth erkennt! Die

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/52>, abgerufen am 26.04.2024.