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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786.

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Von dem wichtigen Unterschiede
von einem würklichen Rechte nichts wußten, und wohl
gar zweifelten ob es dergleichen in der Welt gebe, hat-
ten sich vereiniget, dasjenige für förmliches Recht in je-
der Streitsache gelten zu lassen, was die von den Par-
theyen erwählten Männer, nach ihren großen oder ge-
ringen Einsichten, für gut und billig erkennen würden.
Eben das kann man auch von der würklichen Wahrheit
sagen, worinn so wenige Köpfe miteinander überein kom-
men. Aber förmliches Recht und förmliche Wahrheit
lassen sich durchaus nicht entbehren, und es ist eine ver-
gebliche Frage, oder vielmehr eine Verwechselung dieser
beyden ganz unterschiedenen Arten von Wahrheiten, ob
man würkliche Jrrthümer hegen und nähren dürfe? Nur
förmliche Jrrthümer können nicht gehegt und ernährt
werden, oder es liegt ein Fehler in der Grundverfassung
des Staats.

Alle Nationen haben dieses erkannt, die eher an
Proceßordnungen als an Gesetzbücher gedacht haben.
Jene zeigen den Weg zum förmlichen Rechte, und die
beste Proceßordnung ist die, welche den Weg in ein Mi-
nimum verwandelt. Diese aber enthalten nur das würk-
liche Recht, welches wie gesagt, zur Noth entbehret wer-
den kann; wie denn auch der Großcanzler von Cocceji
die Proceßordnung dem Gesetzbuche vorgehen ließ.

Der traurigste Fall worinn ein Richter sich oft be-
findet, ist dieser, wenn er das würkliche Recht augen-
scheinlich erkennet, und es doch nicht zum förmlichen ma-
chen kann. Aber dem ungeachtet ist es besser, daß ein
einzelner Mann traure, als daß man alles in Gefahr
setze; und dies würde geschehen, wenn jeder Richter das-
jenige, was er für würklich Recht erkennet, sogleich als
rechtskräftig annehmen könnte. Jeder Mensch hat es
mit dankbarem Herzen zu erkennen, daß man das förm-

liche

Von dem wichtigen Unterſchiede
von einem wuͤrklichen Rechte nichts wußten, und wohl
gar zweifelten ob es dergleichen in der Welt gebe, hat-
ten ſich vereiniget, dasjenige fuͤr foͤrmliches Recht in je-
der Streitſache gelten zu laſſen, was die von den Par-
theyen erwaͤhlten Maͤnner, nach ihren großen oder ge-
ringen Einſichten, fuͤr gut und billig erkennen wuͤrden.
Eben das kann man auch von der wuͤrklichen Wahrheit
ſagen, worinn ſo wenige Koͤpfe miteinander uͤberein kom-
men. Aber foͤrmliches Recht und foͤrmliche Wahrheit
laſſen ſich durchaus nicht entbehren, und es iſt eine ver-
gebliche Frage, oder vielmehr eine Verwechſelung dieſer
beyden ganz unterſchiedenen Arten von Wahrheiten, ob
man wuͤrkliche Jrrthuͤmer hegen und naͤhren duͤrfe? Nur
foͤrmliche Jrrthuͤmer koͤnnen nicht gehegt und ernaͤhrt
werden, oder es liegt ein Fehler in der Grundverfaſſung
des Staats.

Alle Nationen haben dieſes erkannt, die eher an
Proceßordnungen als an Geſetzbuͤcher gedacht haben.
Jene zeigen den Weg zum foͤrmlichen Rechte, und die
beſte Proceßordnung iſt die, welche den Weg in ein Mi-
nimum verwandelt. Dieſe aber enthalten nur das wuͤrk-
liche Recht, welches wie geſagt, zur Noth entbehret wer-
den kann; wie denn auch der Großcanzler von Cocceji
die Proceßordnung dem Geſetzbuche vorgehen ließ.

Der traurigſte Fall worinn ein Richter ſich oft be-
findet, iſt dieſer, wenn er das wuͤrkliche Recht augen-
ſcheinlich erkennet, und es doch nicht zum foͤrmlichen ma-
chen kann. Aber dem ungeachtet iſt es beſſer, daß ein
einzelner Mann traure, als daß man alles in Gefahr
ſetze; und dies wuͤrde geſchehen, wenn jeder Richter das-
jenige, was er fuͤr wuͤrklich Recht erkennet, ſogleich als
rechtskraͤftig annehmen koͤnnte. Jeder Menſch hat es
mit dankbarem Herzen zu erkennen, daß man das foͤrm-

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[116/0128] Von dem wichtigen Unterſchiede von einem wuͤrklichen Rechte nichts wußten, und wohl gar zweifelten ob es dergleichen in der Welt gebe, hat- ten ſich vereiniget, dasjenige fuͤr foͤrmliches Recht in je- der Streitſache gelten zu laſſen, was die von den Par- theyen erwaͤhlten Maͤnner, nach ihren großen oder ge- ringen Einſichten, fuͤr gut und billig erkennen wuͤrden. Eben das kann man auch von der wuͤrklichen Wahrheit ſagen, worinn ſo wenige Koͤpfe miteinander uͤberein kom- men. Aber foͤrmliches Recht und foͤrmliche Wahrheit laſſen ſich durchaus nicht entbehren, und es iſt eine ver- gebliche Frage, oder vielmehr eine Verwechſelung dieſer beyden ganz unterſchiedenen Arten von Wahrheiten, ob man wuͤrkliche Jrrthuͤmer hegen und naͤhren duͤrfe? Nur foͤrmliche Jrrthuͤmer koͤnnen nicht gehegt und ernaͤhrt werden, oder es liegt ein Fehler in der Grundverfaſſung des Staats. Alle Nationen haben dieſes erkannt, die eher an Proceßordnungen als an Geſetzbuͤcher gedacht haben. Jene zeigen den Weg zum foͤrmlichen Rechte, und die beſte Proceßordnung iſt die, welche den Weg in ein Mi- nimum verwandelt. Dieſe aber enthalten nur das wuͤrk- liche Recht, welches wie geſagt, zur Noth entbehret wer- den kann; wie denn auch der Großcanzler von Cocceji die Proceßordnung dem Geſetzbuche vorgehen ließ. Der traurigſte Fall worinn ein Richter ſich oft be- findet, iſt dieſer, wenn er das wuͤrkliche Recht augen- ſcheinlich erkennet, und es doch nicht zum foͤrmlichen ma- chen kann. Aber dem ungeachtet iſt es beſſer, daß ein einzelner Mann traure, als daß man alles in Gefahr ſetze; und dies wuͤrde geſchehen, wenn jeder Richter das- jenige, was er fuͤr wuͤrklich Recht erkennet, ſogleich als rechtskraͤftig annehmen koͤnnte. Jeder Menſch hat es mit dankbarem Herzen zu erkennen, daß man das foͤrm- liche

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien04_1786/128>, abgerufen am 29.04.2024.