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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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1) Wenn es im deutschen Reiche verboten war, die Reichsfürsten als
Unterthanen des Kaisers zu bezeichnen, so war dies begründet nicht etwa
in ihrem hohen Range, sondern vielmehr in ihrem Besitze der Landeshoheit,
welche ein Theil der Staatsgewalt war und die sie folglich mit dem Kaiser
theilten. Jetzt aber mag ein Standesherr von noch so alter und großer
Abstammung sein, noch so viele Vorrechte und so fürstliches Vermögen
besitzen, er ist jetzt Unterthan, weil er eine Staatsgewalt über sich hat.
2) Die Behauptung, daß man dem Gesetze unterthan sei, nicht aber
einem Menschen, ist nicht etwa blos ein müßiger Wortstreit, sondern sie
ist positiv unrichtig. Der Staatsgenosse ist der Staatsgewalt unterthan,
nicht blos wo sie Gesetze vollzieht, sondern wo sie überhaupt in ihrem Rechte
ist. Dagegen war, wenn man bis auf Harspaltereien genau sein will,
richtig, daß die Minister Louis Philipp's sich in ihren Berichten an den
König nicht "Unterthanen" sondern "Diener" nennen sollten. Ihre amt-
lichen Schreiben an das Staatsoberhaupt erließen sie als dessen Organe und
somit "Diener," nicht als Unterthanen im Allgemeinen. Dagegen waren
die Franzosen im Ganzen nach der Julirevolution so gut wie vor derselben
"Unterthanen." -- Im Uebrigen fit a potiori denominatio. Daher mag
immerhin in einem Staate, wo die Verpflichtungen vorwiegen, wie z. B.
in Rußland, der Staatsgenosse in allen Fällen und Beziehungen Unterthan
genannt werden, also auch, wenn gelegentlich von Rechten desselben die
Rede ist; und umgekehrt mag in Nordamerika immer nur von Bürgern
die Rede sein, auch da, wo sie gehorchen oder wenigstens gehorchen sollten.
3) Es ist bezeichnender, als löblich und klug, daß in der itzigen Zeit
ausschließlich nur von den Rechten und nicht auch von den Verpflichtungen
der Staatsgenossen die Rede ist, und zwar nicht blos in den Gesetzen,
sondern auch in theoretischen Bearbeitungen. Unwillkürlich und unbewußt
drückt sich darin ein doppelter Grundzug unserer staatlichen Zustände aus:
einmal, die selbstsüchtige Atomistik unserer ganzen Lebens- und Staats-
anschauung; zweitens aber das tiefe Mißtrauen gegen den guten Willen
und die Leistungen der Regierungen. Auch die fast durchgängige völlige
Nichtbesprechung der sittlichen Pflichten und der Klugheitsrücksichten des
Bürgers ist bemerkenswerth; und es darf in ihr ohne Zweifel eine Nach-
wirkung der so lange herrschenden ausschließlichen Auffassung des Staates
als einer blosen Rechtsanstalt erblickt werden. Im positiven Staatsgesetze
kann freilich nur das, was auch erzwingbar ist, vorgeschrieben werden;
allein einmal hindert dieß keineswegs die Aufnahme auch von Verpflichtun-
gen des Bürgers; sodann stünde es jeden Falls der Wissenschaft frei, in
ihren Forderungen allseitig zu sein. -- Manches Richtige sagt in dieser
Beziehung Stahl, Lehre vom Staate, 3. Aufl., S. 518 fg.; einiges auch
Schmitthenner, Zwölf Bücher, Bd. III, S. 383 fg. und Mor-
1) Wenn es im deutſchen Reiche verboten war, die Reichsfürſten als
Unterthanen des Kaiſers zu bezeichnen, ſo war dies begründet nicht etwa
in ihrem hohen Range, ſondern vielmehr in ihrem Beſitze der Landeshoheit,
welche ein Theil der Staatsgewalt war und die ſie folglich mit dem Kaiſer
theilten. Jetzt aber mag ein Standesherr von noch ſo alter und großer
Abſtammung ſein, noch ſo viele Vorrechte und ſo fürſtliches Vermögen
beſitzen, er iſt jetzt Unterthan, weil er eine Staatsgewalt über ſich hat.
2) Die Behauptung, daß man dem Geſetze unterthan ſei, nicht aber
einem Menſchen, iſt nicht etwa blos ein müßiger Wortſtreit, ſondern ſie
iſt poſitiv unrichtig. Der Staatsgenoſſe iſt der Staatsgewalt unterthan,
nicht blos wo ſie Geſetze vollzieht, ſondern wo ſie überhaupt in ihrem Rechte
iſt. Dagegen war, wenn man bis auf Harſpaltereien genau ſein will,
richtig, daß die Miniſter Louis Philipp’s ſich in ihren Berichten an den
König nicht „Unterthanen“ ſondern „Diener“ nennen ſollten. Ihre amt-
lichen Schreiben an das Staatsoberhaupt erließen ſie als deſſen Organe und
ſomit „Diener,“ nicht als Unterthanen im Allgemeinen. Dagegen waren
die Franzoſen im Ganzen nach der Julirevolution ſo gut wie vor derſelben
„Unterthanen.“ — Im Uebrigen fit a potiori denominatio. Daher mag
immerhin in einem Staate, wo die Verpflichtungen vorwiegen, wie z. B.
in Rußland, der Staatsgenoſſe in allen Fällen und Beziehungen Unterthan
genannt werden, alſo auch, wenn gelegentlich von Rechten deſſelben die
Rede iſt; und umgekehrt mag in Nordamerika immer nur von Bürgern
die Rede ſein, auch da, wo ſie gehorchen oder wenigſtens gehorchen ſollten.
3) Es iſt bezeichnender, als löblich und klug, daß in der itzigen Zeit
ausſchließlich nur von den Rechten und nicht auch von den Verpflichtungen
der Staatsgenoſſen die Rede iſt, und zwar nicht blos in den Geſetzen,
ſondern auch in theoretiſchen Bearbeitungen. Unwillkürlich und unbewußt
drückt ſich darin ein doppelter Grundzug unſerer ſtaatlichen Zuſtände aus:
einmal, die ſelbſtſüchtige Atomiſtik unſerer ganzen Lebens- und Staats-
anſchauung; zweitens aber das tiefe Mißtrauen gegen den guten Willen
und die Leiſtungen der Regierungen. Auch die faſt durchgängige völlige
Nichtbeſprechung der ſittlichen Pflichten und der Klugheitsrückſichten des
Bürgers iſt bemerkenswerth; und es darf in ihr ohne Zweifel eine Nach-
wirkung der ſo lange herrſchenden ausſchließlichen Auffaſſung des Staates
als einer bloſen Rechtsanſtalt erblickt werden. Im poſitiven Staatsgeſetze
kann freilich nur das, was auch erzwingbar iſt, vorgeſchrieben werden;
allein einmal hindert dieß keineswegs die Aufnahme auch von Verpflichtun-
gen des Bürgers; ſodann ſtünde es jeden Falls der Wiſſenſchaft frei, in
ihren Forderungen allſeitig zu ſein. — Manches Richtige ſagt in dieſer
Beziehung Stahl, Lehre vom Staate, 3. Aufl., S. 518 fg.; einiges auch
Schmitthenner, Zwölf Bücher, Bd. III, S. 383 fg. und Mor-
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[118/0132] ¹⁾ Wenn es im deutſchen Reiche verboten war, die Reichsfürſten als Unterthanen des Kaiſers zu bezeichnen, ſo war dies begründet nicht etwa in ihrem hohen Range, ſondern vielmehr in ihrem Beſitze der Landeshoheit, welche ein Theil der Staatsgewalt war und die ſie folglich mit dem Kaiſer theilten. Jetzt aber mag ein Standesherr von noch ſo alter und großer Abſtammung ſein, noch ſo viele Vorrechte und ſo fürſtliches Vermögen beſitzen, er iſt jetzt Unterthan, weil er eine Staatsgewalt über ſich hat. ²⁾ Die Behauptung, daß man dem Geſetze unterthan ſei, nicht aber einem Menſchen, iſt nicht etwa blos ein müßiger Wortſtreit, ſondern ſie iſt poſitiv unrichtig. Der Staatsgenoſſe iſt der Staatsgewalt unterthan, nicht blos wo ſie Geſetze vollzieht, ſondern wo ſie überhaupt in ihrem Rechte iſt. Dagegen war, wenn man bis auf Harſpaltereien genau ſein will, richtig, daß die Miniſter Louis Philipp’s ſich in ihren Berichten an den König nicht „Unterthanen“ ſondern „Diener“ nennen ſollten. Ihre amt- lichen Schreiben an das Staatsoberhaupt erließen ſie als deſſen Organe und ſomit „Diener,“ nicht als Unterthanen im Allgemeinen. Dagegen waren die Franzoſen im Ganzen nach der Julirevolution ſo gut wie vor derſelben „Unterthanen.“ — Im Uebrigen fit a potiori denominatio. Daher mag immerhin in einem Staate, wo die Verpflichtungen vorwiegen, wie z. B. in Rußland, der Staatsgenoſſe in allen Fällen und Beziehungen Unterthan genannt werden, alſo auch, wenn gelegentlich von Rechten deſſelben die Rede iſt; und umgekehrt mag in Nordamerika immer nur von Bürgern die Rede ſein, auch da, wo ſie gehorchen oder wenigſtens gehorchen ſollten. ³⁾ Es iſt bezeichnender, als löblich und klug, daß in der itzigen Zeit ausſchließlich nur von den Rechten und nicht auch von den Verpflichtungen der Staatsgenoſſen die Rede iſt, und zwar nicht blos in den Geſetzen, ſondern auch in theoretiſchen Bearbeitungen. Unwillkürlich und unbewußt drückt ſich darin ein doppelter Grundzug unſerer ſtaatlichen Zuſtände aus: einmal, die ſelbſtſüchtige Atomiſtik unſerer ganzen Lebens- und Staats- anſchauung; zweitens aber das tiefe Mißtrauen gegen den guten Willen und die Leiſtungen der Regierungen. Auch die faſt durchgängige völlige Nichtbeſprechung der ſittlichen Pflichten und der Klugheitsrückſichten des Bürgers iſt bemerkenswerth; und es darf in ihr ohne Zweifel eine Nach- wirkung der ſo lange herrſchenden ausſchließlichen Auffaſſung des Staates als einer bloſen Rechtsanſtalt erblickt werden. Im poſitiven Staatsgeſetze kann freilich nur das, was auch erzwingbar iſt, vorgeſchrieben werden; allein einmal hindert dieß keineswegs die Aufnahme auch von Verpflichtun- gen des Bürgers; ſodann ſtünde es jeden Falls der Wiſſenſchaft frei, in ihren Forderungen allſeitig zu ſein. — Manches Richtige ſagt in dieſer Beziehung Stahl, Lehre vom Staate, 3. Aufl., S. 518 fg.; einiges auch Schmitthenner, Zwölf Bücher, Bd. III, S. 383 fg. und Mor-

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/132>, abgerufen am 29.04.2024.