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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Werken unterrichten, welche eine mehr oder weniger ausführliche Nachricht
von einzelnen bestehenden Theokratieen geben. Als solche sind dann aber
namentlich von Werth: Ueber die Braminentheokratie: Menu's Gesetzbuch
und Bohlen, Ueber das alte Indien; über die jüdische Theokratie:
Michaelis's Mosaisches Recht, Leo's Geschichte des jüdischen Staates,
Hüllmann's Staatsverfassung der Israeliten, Duncker's Geschichte
des Alterthums, Bd. I; über die Buddhistischen Theokratieen: Turner's
und Huc's Reisen nach Thibet und Prinsep's Schilderung des
Buddhaismus; über Egypten: die Werke von Wilkinson, Bunsen
u. s. f.; über Peru endlich: Prescott's Eroberungsgeschichte.
2) Wenn Haller der Meinung ist, daß nur die wahre d. h. die
christliche Religion, einer Theokratie auf lange Zeit zur Grundlage dienen
könne, falsche Religionen dagegen zwar auch zu dieser Staatsgattung benützbar
seien, ihr jedoch keine Dauer gewähren: so widerspricht dem die Geschichte
geradezu. Von sämmtlichen bekannten Theokratieen hat gerade die katho-
lisch-christliche die kürzeste Zeit bestanden und sich auch am wenigsten voll-
ständig entwickelt. Offenbar thut auch die Wahrheit, d. h. der Inhalt einer
religiösen Lehre, hier nichts zur Sache, sondern kömmt es blos darauf an,
ob sie das Dogma einer unmittelbaren göttlichen Leitung menschlicher Dinge
zuläßt, ob dasselbe zu staatlichen Zwecken benützt wird, und ob das Volk
treu und beständig glaubt. Dies Alles kann aber auch bei Religionen
stattfinden, welche wir für falsch erachten.
3) Gewöhnlich wird in den Begriff einer Theokratie die Hinweisung
auf ein Leben nach dem Tode aufgenommen, so daß der Staat als eine
Erziehungsanstalt für diesen spätern Zustand erscheint. Dies ist bei den
meisten Theokratieen thatsächlich richtig; aber es ist dieses Dogma doch nicht
nothwendig für die Gründung eines Glaubensstaates. Der Mittelpunkt des
Gedankens ist die Einrichtung und Leitung des Staates nach unmittelbarem
göttlichem Befehle, dieser kann dann aber auch das Leben blos auf dieser
Erde ins Auge fassen. Schwerer zu leiten wird eine Theokratie freilich sein,
wenn ihren Häuptern die Anweisung auf ein glückliches Dasein nach einem
in Glauben und Gehorsam zugebrachten Leben und die Bedrohung mit un-
nennbaren, vielleicht ewigen Strafen abgeht.
4) Daß jede Art der Verbindung zwischen der Gottheit und dem sicht-
baren Staatsoberhaupte verwendet werden mag, wenn nur überhaupt eine
angenommen ist, und daß man dem Gläubigen keck Vieles bieten kann,
zeigt die Erfahrung. Nicht blos Papst und Kaiser und die Unfehlbarkeit
des Ersteren, haben eine Theokratie gebildet; sondern auch die Incarnation
Buddha's im Großen Lama, die Abstammung Manu Capac's von der
Sonne und die Nachfolge des Propheten bei den Chalifen haben gleich gut
für Theokratieen gepaßt.
Werken unterrichten, welche eine mehr oder weniger ausführliche Nachricht
von einzelnen beſtehenden Theokratieen geben. Als ſolche ſind dann aber
namentlich von Werth: Ueber die Braminentheokratie: Menu’s Geſetzbuch
und Bohlen, Ueber das alte Indien; über die jüdiſche Theokratie:
Michaelis’s Moſaiſches Recht, Leo’s Geſchichte des jüdiſchen Staates,
Hüllmann’s Staatsverfaſſung der Israeliten, Duncker’s Geſchichte
des Alterthums, Bd. I; über die Buddhiſtiſchen Theokratieen: Turner’s
und Huc’s Reiſen nach Thibet und Prinſep’s Schilderung des
Buddhaismus; über Egypten: die Werke von Wilkinſon, Bunſen
u. ſ. f.; über Peru endlich: Prescott’s Eroberungsgeſchichte.
2) Wenn Haller der Meinung iſt, daß nur die wahre d. h. die
chriſtliche Religion, einer Theokratie auf lange Zeit zur Grundlage dienen
könne, falſche Religionen dagegen zwar auch zu dieſer Staatsgattung benützbar
ſeien, ihr jedoch keine Dauer gewähren: ſo widerſpricht dem die Geſchichte
geradezu. Von ſämmtlichen bekannten Theokratieen hat gerade die katho-
liſch-chriſtliche die kürzeſte Zeit beſtanden und ſich auch am wenigſten voll-
ſtändig entwickelt. Offenbar thut auch die Wahrheit, d. h. der Inhalt einer
religiöſen Lehre, hier nichts zur Sache, ſondern kömmt es blos darauf an,
ob ſie das Dogma einer unmittelbaren göttlichen Leitung menſchlicher Dinge
zuläßt, ob daſſelbe zu ſtaatlichen Zwecken benützt wird, und ob das Volk
treu und beſtändig glaubt. Dies Alles kann aber auch bei Religionen
ſtattfinden, welche wir für falſch erachten.
3) Gewöhnlich wird in den Begriff einer Theokratie die Hinweiſung
auf ein Leben nach dem Tode aufgenommen, ſo daß der Staat als eine
Erziehungsanſtalt für dieſen ſpätern Zuſtand erſcheint. Dies iſt bei den
meiſten Theokratieen thatſächlich richtig; aber es iſt dieſes Dogma doch nicht
nothwendig für die Gründung eines Glaubensſtaates. Der Mittelpunkt des
Gedankens iſt die Einrichtung und Leitung des Staates nach unmittelbarem
göttlichem Befehle, dieſer kann dann aber auch das Leben blos auf dieſer
Erde ins Auge faſſen. Schwerer zu leiten wird eine Theokratie freilich ſein,
wenn ihren Häuptern die Anweiſung auf ein glückliches Daſein nach einem
in Glauben und Gehorſam zugebrachten Leben und die Bedrohung mit un-
nennbaren, vielleicht ewigen Strafen abgeht.
4) Daß jede Art der Verbindung zwiſchen der Gottheit und dem ſicht-
baren Staatsoberhaupte verwendet werden mag, wenn nur überhaupt eine
angenommen iſt, und daß man dem Gläubigen keck Vieles bieten kann,
zeigt die Erfahrung. Nicht blos Papſt und Kaiſer und die Unfehlbarkeit
des Erſteren, haben eine Theokratie gebildet; ſondern auch die Incarnation
Buddha’s im Großen Lama, die Abſtammung Manu Capac’s von der
Sonne und die Nachfolge des Propheten bei den Chalifen haben gleich gut
für Theokratieen gepaßt.
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[317/0331] ¹⁾ Werken unterrichten, welche eine mehr oder weniger ausführliche Nachricht von einzelnen beſtehenden Theokratieen geben. Als ſolche ſind dann aber namentlich von Werth: Ueber die Braminentheokratie: Menu’s Geſetzbuch und Bohlen, Ueber das alte Indien; über die jüdiſche Theokratie: Michaelis’s Moſaiſches Recht, Leo’s Geſchichte des jüdiſchen Staates, Hüllmann’s Staatsverfaſſung der Israeliten, Duncker’s Geſchichte des Alterthums, Bd. I; über die Buddhiſtiſchen Theokratieen: Turner’s und Huc’s Reiſen nach Thibet und Prinſep’s Schilderung des Buddhaismus; über Egypten: die Werke von Wilkinſon, Bunſen u. ſ. f.; über Peru endlich: Prescott’s Eroberungsgeſchichte. ²⁾ Wenn Haller der Meinung iſt, daß nur die wahre d. h. die chriſtliche Religion, einer Theokratie auf lange Zeit zur Grundlage dienen könne, falſche Religionen dagegen zwar auch zu dieſer Staatsgattung benützbar ſeien, ihr jedoch keine Dauer gewähren: ſo widerſpricht dem die Geſchichte geradezu. Von ſämmtlichen bekannten Theokratieen hat gerade die katho- liſch-chriſtliche die kürzeſte Zeit beſtanden und ſich auch am wenigſten voll- ſtändig entwickelt. Offenbar thut auch die Wahrheit, d. h. der Inhalt einer religiöſen Lehre, hier nichts zur Sache, ſondern kömmt es blos darauf an, ob ſie das Dogma einer unmittelbaren göttlichen Leitung menſchlicher Dinge zuläßt, ob daſſelbe zu ſtaatlichen Zwecken benützt wird, und ob das Volk treu und beſtändig glaubt. Dies Alles kann aber auch bei Religionen ſtattfinden, welche wir für falſch erachten. ³⁾ Gewöhnlich wird in den Begriff einer Theokratie die Hinweiſung auf ein Leben nach dem Tode aufgenommen, ſo daß der Staat als eine Erziehungsanſtalt für dieſen ſpätern Zuſtand erſcheint. Dies iſt bei den meiſten Theokratieen thatſächlich richtig; aber es iſt dieſes Dogma doch nicht nothwendig für die Gründung eines Glaubensſtaates. Der Mittelpunkt des Gedankens iſt die Einrichtung und Leitung des Staates nach unmittelbarem göttlichem Befehle, dieſer kann dann aber auch das Leben blos auf dieſer Erde ins Auge faſſen. Schwerer zu leiten wird eine Theokratie freilich ſein, wenn ihren Häuptern die Anweiſung auf ein glückliches Daſein nach einem in Glauben und Gehorſam zugebrachten Leben und die Bedrohung mit un- nennbaren, vielleicht ewigen Strafen abgeht. ⁴⁾ Daß jede Art der Verbindung zwiſchen der Gottheit und dem ſicht- baren Staatsoberhaupte verwendet werden mag, wenn nur überhaupt eine angenommen iſt, und daß man dem Gläubigen keck Vieles bieten kann, zeigt die Erfahrung. Nicht blos Papſt und Kaiſer und die Unfehlbarkeit des Erſteren, haben eine Theokratie gebildet; ſondern auch die Incarnation Buddha’s im Großen Lama, die Abſtammung Manu Capac’s von der Sonne und die Nachfolge des Propheten bei den Chalifen haben gleich gut für Theokratieen gepaßt.

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/331>, abgerufen am 30.04.2024.