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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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steht er auf gleichem Boden. Größere Rücksicht auf Mäch-
tigere ist Sache der Klugheit und Schicklichkeit, nicht aber des
Rechtes.

6) Das Recht auf Vergrößerung, soweit dies ohne
Verletzung Anderer geschehen kann. Die dadurch entstehende
größere Macht ist für andere Staaten nur ein Grund zu Vor-
sicht und etwa zu schützenden Vorkehrungen, aber weder ein
Rechtsgrund zu einer Verhinderung des an sich Erlaubten,
noch eine Befugniß zu einer ungerechten Vergrößerung der eigenen
Macht 3).

1) So gewiß einem Staate weder zugemuthet werden kann noch es
ihm zusteht, den empörten Bestandtheil eines anderen Staates sogleich als
selbstständig anzuerkennen, auf die Gefahr hin daß derselbe alsbald wieder
von der rechtmäßigen Obrigkeit unterworfen werde: ebensowenig kann er
verhindert sein, einen thatsächlich bestehenden und voraussichtlich seine Un-
abhängigkeit nachhaltig bewahrenden Staat anzuerkennen, weil etwa eine
frühere Regierung ihre Ansprüche auf Gehorsam noch nicht aufgegeben hat.
Die Streitigkeiten über diese Rechtsfragen sind von den zunächst Betheiligten
allein zu erledigen; für Dritte ist die Thatsache eines selbstständigen und
wahrscheinlich gesicherten Daseins die einzige Rücksicht. Daher ist denn auch
die Einziehung eines Verkehres mit solchen neuen Staaten weder eine Ab-
läugnung des etwaigen Rechtes einer früheren Regierung, noch eine Be-
leidigung derselben; vielmehr kann im Gegentheile ein thatsächlich selbst-
ständiger Staat sich für verletzt erachten, wenn er von anderen Staaten
wegen eines von ihm nicht anerkannten Anspruches innerer staatsrechtlicher
Art nicht anerkannt werden will. Eine so späte völkerrechtliche Anerkennung,
wie sie z. B. der Schweiz erst im westphälischen Frieden, oder Holland zu
derselben Zeit zu Theil wurde, ist nicht nur lächerlich, sondern unrecht.
2) Ueber das Recht der Staaten zu einer Einmischung in die inneren
Angelegenheiten eines anderen Staates (Intervention) haben die Ansichten
noch in der neuesten Zeit mehrfach und entschieden gewechselt, freilich nicht
sowohl aus Rechts- als aus politischen Gründen. Während die heilige
Allianz das Recht einer Intervention in Anspruch nahm, ist bei den späteren
wiederholten Umgestaltungen Frankreichs und den Folgen derselben die Nicht-
intervention fast eben so allgemein und noch weit ängstlicher verlangt worden.
Auch die Literatur ist getheilt. Während wenigstens Einzelne die Inter-
vention vertheidigen, so z. B. Kamptz, Erörterung des Rechtes der Mächte
in die Verfassung eines einzelnen Staates sich einzumischen. Berl., 1821,

ſteht er auf gleichem Boden. Größere Rückſicht auf Mäch-
tigere iſt Sache der Klugheit und Schicklichkeit, nicht aber des
Rechtes.

6) Das Recht auf Vergrößerung, ſoweit dies ohne
Verletzung Anderer geſchehen kann. Die dadurch entſtehende
größere Macht iſt für andere Staaten nur ein Grund zu Vor-
ſicht und etwa zu ſchützenden Vorkehrungen, aber weder ein
Rechtsgrund zu einer Verhinderung des an ſich Erlaubten,
noch eine Befugniß zu einer ungerechten Vergrößerung der eigenen
Macht 3).

1) So gewiß einem Staate weder zugemuthet werden kann noch es
ihm zuſteht, den empörten Beſtandtheil eines anderen Staates ſogleich als
ſelbſtſtändig anzuerkennen, auf die Gefahr hin daß derſelbe alsbald wieder
von der rechtmäßigen Obrigkeit unterworfen werde: ebenſowenig kann er
verhindert ſein, einen thatſächlich beſtehenden und vorausſichtlich ſeine Un-
abhängigkeit nachhaltig bewahrenden Staat anzuerkennen, weil etwa eine
frühere Regierung ihre Anſprüche auf Gehorſam noch nicht aufgegeben hat.
Die Streitigkeiten über dieſe Rechtsfragen ſind von den zunächſt Betheiligten
allein zu erledigen; für Dritte iſt die Thatſache eines ſelbſtſtändigen und
wahrſcheinlich geſicherten Daſeins die einzige Rückſicht. Daher iſt denn auch
die Einziehung eines Verkehres mit ſolchen neuen Staaten weder eine Ab-
läugnung des etwaigen Rechtes einer früheren Regierung, noch eine Be-
leidigung derſelben; vielmehr kann im Gegentheile ein thatſächlich ſelbſt-
ſtändiger Staat ſich für verletzt erachten, wenn er von anderen Staaten
wegen eines von ihm nicht anerkannten Anſpruches innerer ſtaatsrechtlicher
Art nicht anerkannt werden will. Eine ſo ſpäte völkerrechtliche Anerkennung,
wie ſie z. B. der Schweiz erſt im weſtphäliſchen Frieden, oder Holland zu
derſelben Zeit zu Theil wurde, iſt nicht nur lächerlich, ſondern unrecht.
2) Ueber das Recht der Staaten zu einer Einmiſchung in die inneren
Angelegenheiten eines anderen Staates (Intervention) haben die Anſichten
noch in der neueſten Zeit mehrfach und entſchieden gewechſelt, freilich nicht
ſowohl aus Rechts- als aus politiſchen Gründen. Während die heilige
Allianz das Recht einer Intervention in Anſpruch nahm, iſt bei den ſpäteren
wiederholten Umgeſtaltungen Frankreichs und den Folgen derſelben die Nicht-
intervention faſt eben ſo allgemein und noch weit ängſtlicher verlangt worden.
Auch die Literatur iſt getheilt. Während wenigſtens Einzelne die Inter-
vention vertheidigen, ſo z. B. Kamptz, Erörterung des Rechtes der Mächte
in die Verfaſſung eines einzelnen Staates ſich einzumiſchen. Berl., 1821,
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[423/0437] ſteht er auf gleichem Boden. Größere Rückſicht auf Mäch- tigere iſt Sache der Klugheit und Schicklichkeit, nicht aber des Rechtes. 6) Das Recht auf Vergrößerung, ſoweit dies ohne Verletzung Anderer geſchehen kann. Die dadurch entſtehende größere Macht iſt für andere Staaten nur ein Grund zu Vor- ſicht und etwa zu ſchützenden Vorkehrungen, aber weder ein Rechtsgrund zu einer Verhinderung des an ſich Erlaubten, noch eine Befugniß zu einer ungerechten Vergrößerung der eigenen Macht 3). ¹⁾ So gewiß einem Staate weder zugemuthet werden kann noch es ihm zuſteht, den empörten Beſtandtheil eines anderen Staates ſogleich als ſelbſtſtändig anzuerkennen, auf die Gefahr hin daß derſelbe alsbald wieder von der rechtmäßigen Obrigkeit unterworfen werde: ebenſowenig kann er verhindert ſein, einen thatſächlich beſtehenden und vorausſichtlich ſeine Un- abhängigkeit nachhaltig bewahrenden Staat anzuerkennen, weil etwa eine frühere Regierung ihre Anſprüche auf Gehorſam noch nicht aufgegeben hat. Die Streitigkeiten über dieſe Rechtsfragen ſind von den zunächſt Betheiligten allein zu erledigen; für Dritte iſt die Thatſache eines ſelbſtſtändigen und wahrſcheinlich geſicherten Daſeins die einzige Rückſicht. Daher iſt denn auch die Einziehung eines Verkehres mit ſolchen neuen Staaten weder eine Ab- läugnung des etwaigen Rechtes einer früheren Regierung, noch eine Be- leidigung derſelben; vielmehr kann im Gegentheile ein thatſächlich ſelbſt- ſtändiger Staat ſich für verletzt erachten, wenn er von anderen Staaten wegen eines von ihm nicht anerkannten Anſpruches innerer ſtaatsrechtlicher Art nicht anerkannt werden will. Eine ſo ſpäte völkerrechtliche Anerkennung, wie ſie z. B. der Schweiz erſt im weſtphäliſchen Frieden, oder Holland zu derſelben Zeit zu Theil wurde, iſt nicht nur lächerlich, ſondern unrecht. ²⁾ Ueber das Recht der Staaten zu einer Einmiſchung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates (Intervention) haben die Anſichten noch in der neueſten Zeit mehrfach und entſchieden gewechſelt, freilich nicht ſowohl aus Rechts- als aus politiſchen Gründen. Während die heilige Allianz das Recht einer Intervention in Anſpruch nahm, iſt bei den ſpäteren wiederholten Umgeſtaltungen Frankreichs und den Folgen derſelben die Nicht- intervention faſt eben ſo allgemein und noch weit ängſtlicher verlangt worden. Auch die Literatur iſt getheilt. Während wenigſtens Einzelne die Inter- vention vertheidigen, ſo z. B. Kamptz, Erörterung des Rechtes der Mächte in die Verfaſſung eines einzelnen Staates ſich einzumiſchen. Berl., 1821,

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/437>, abgerufen am 27.04.2024.