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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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malen Rechten bezeichnet. -- Streitigkeiten über die Präcedenz
haben den Frieden von Europa schon sehr ernstlich bedroht, und
wenn auch in neuerer Zeit dieselben möglichst umgangen wer-
den, so sind doch die Ansprüche keineswegs rechtlich aufgegeben,
sondern es wird nur von ihnen durch gemeinsame Uebereinkunft
und ohne rechtliche Folgerung Umgang genommen 3). -- Eine
Folge dieser Rangverhältnisse ist denn auch, daß es einem
Staate zwar wohl freisteht, in seinen innern Beziehungen und
amtlichen Formen sich nach Belieben Titel und Cäremoniell-
ansprüche beizulegen, eine Aenderung des Herkömmlichen aber
im Verkehre mit dem Auslande nur mit dessen Zustimmung
stattfindet 4).

Die Grundsätze über das Einmischungsrecht eines
Staates in die inneren Angelegenheiten eines anderen, nament-
lich in seine Verfassung, haben im europäischen Staatenleben
die größten Schwankungen erlitten, und sind keineswegs als
schließlich festgestellt zu betrachten. Am weitesten in den Ein-
mischungsansprüchen ging die heilige Allianz. Daß aber auch
auf anderer Grundlage und in anderer Richtung sehr weitgehende
Ansprüche an eine bestimmte Gestaltung eines Staates erhoben
werden können, beweisen die gemeinschaftlichen Forderungen
der großen christlichen Mächte auf eine völlige Umgestaltung
der Verfassung des türkischen Reiches (im Jahr 1856). --
Eingriffe in die bloße Verwaltung eines fremden Staates wer-
den unbedingt als rechtswidrig betrachtet; und es mag nur im
einzelnen Falle wegen einer vermeintlichen Rechtsverletzung durch
die Behörden eines andern Staates Abhülfe und vielleicht Ent-
schädigung verlangt werden.

1) Nur die Vereinigten Staaten von Nordamerika halten sich hinsichtlich
der Anerkennung neuer Staaten unbedingt an die Thatsache des selbststän-
digen Bestehens und verzichten ausdrücklich auf jede Untersuchung des
Rechtsgrundes.

malen Rechten bezeichnet. — Streitigkeiten über die Präcedenz
haben den Frieden von Europa ſchon ſehr ernſtlich bedroht, und
wenn auch in neuerer Zeit dieſelben möglichſt umgangen wer-
den, ſo ſind doch die Anſprüche keineswegs rechtlich aufgegeben,
ſondern es wird nur von ihnen durch gemeinſame Uebereinkunft
und ohne rechtliche Folgerung Umgang genommen 3). — Eine
Folge dieſer Rangverhältniſſe iſt denn auch, daß es einem
Staate zwar wohl freiſteht, in ſeinen innern Beziehungen und
amtlichen Formen ſich nach Belieben Titel und Cäremoniell-
anſprüche beizulegen, eine Aenderung des Herkömmlichen aber
im Verkehre mit dem Auslande nur mit deſſen Zuſtimmung
ſtattfindet 4).

Die Grundſätze über das Einmiſchungsrecht eines
Staates in die inneren Angelegenheiten eines anderen, nament-
lich in ſeine Verfaſſung, haben im europäiſchen Staatenleben
die größten Schwankungen erlitten, und ſind keineswegs als
ſchließlich feſtgeſtellt zu betrachten. Am weiteſten in den Ein-
miſchungsanſprüchen ging die heilige Allianz. Daß aber auch
auf anderer Grundlage und in anderer Richtung ſehr weitgehende
Anſprüche an eine beſtimmte Geſtaltung eines Staates erhoben
werden können, beweiſen die gemeinſchaftlichen Forderungen
der großen chriſtlichen Mächte auf eine völlige Umgeſtaltung
der Verfaſſung des türkiſchen Reiches (im Jahr 1856). —
Eingriffe in die bloße Verwaltung eines fremden Staates wer-
den unbedingt als rechtswidrig betrachtet; und es mag nur im
einzelnen Falle wegen einer vermeintlichen Rechtsverletzung durch
die Behörden eines andern Staates Abhülfe und vielleicht Ent-
ſchädigung verlangt werden.

1) Nur die Vereinigten Staaten von Nordamerika halten ſich hinſichtlich
der Anerkennung neuer Staaten unbedingt an die Thatſache des ſelbſtſtän-
digen Beſtehens und verzichten ausdrücklich auf jede Unterſuchung des
Rechtsgrundes.
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[476/0490] malen Rechten bezeichnet. — Streitigkeiten über die Präcedenz haben den Frieden von Europa ſchon ſehr ernſtlich bedroht, und wenn auch in neuerer Zeit dieſelben möglichſt umgangen wer- den, ſo ſind doch die Anſprüche keineswegs rechtlich aufgegeben, ſondern es wird nur von ihnen durch gemeinſame Uebereinkunft und ohne rechtliche Folgerung Umgang genommen 3). — Eine Folge dieſer Rangverhältniſſe iſt denn auch, daß es einem Staate zwar wohl freiſteht, in ſeinen innern Beziehungen und amtlichen Formen ſich nach Belieben Titel und Cäremoniell- anſprüche beizulegen, eine Aenderung des Herkömmlichen aber im Verkehre mit dem Auslande nur mit deſſen Zuſtimmung ſtattfindet 4). Die Grundſätze über das Einmiſchungsrecht eines Staates in die inneren Angelegenheiten eines anderen, nament- lich in ſeine Verfaſſung, haben im europäiſchen Staatenleben die größten Schwankungen erlitten, und ſind keineswegs als ſchließlich feſtgeſtellt zu betrachten. Am weiteſten in den Ein- miſchungsanſprüchen ging die heilige Allianz. Daß aber auch auf anderer Grundlage und in anderer Richtung ſehr weitgehende Anſprüche an eine beſtimmte Geſtaltung eines Staates erhoben werden können, beweiſen die gemeinſchaftlichen Forderungen der großen chriſtlichen Mächte auf eine völlige Umgeſtaltung der Verfaſſung des türkiſchen Reiches (im Jahr 1856). — Eingriffe in die bloße Verwaltung eines fremden Staates wer- den unbedingt als rechtswidrig betrachtet; und es mag nur im einzelnen Falle wegen einer vermeintlichen Rechtsverletzung durch die Behörden eines andern Staates Abhülfe und vielleicht Ent- ſchädigung verlangt werden. ¹⁾ Nur die Vereinigten Staaten von Nordamerika halten ſich hinſichtlich der Anerkennung neuer Staaten unbedingt an die Thatſache des ſelbſtſtän- digen Beſtehens und verzichten ausdrücklich auf jede Unterſuchung des Rechtsgrundes.

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/490>, abgerufen am 29.04.2024.