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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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denn das Realsystem in dem Staate der Neuzeit entstanden ist,
während der Patrimonialstaat mit weit geringerer Spaltung
und Zahl der Stellen bestehen mochte. Freiwillige Dienst-
leistungen endlich setzen einen Staat voraus, in welchem sich
Vaterlandsliebe, Zufriedenheit und freie Bewegung entfalten
kann; vergeblich wird man also in strengen Einherrschaften auf
sie rechnen; und in Theokratieen ist ein Anerbieten Freiwilliger
zur Ausführung der Gebote wohl kaum vereinbar mit dem
Verhältnisse des Menschen zu der Gottheit.

1) Ueber den Begriff und die verschiedenen Eigenschaften des Real-
und des Provinzialsystemes s. vorzugsweise Malchus, C. A. von, Politik
der inneren Staatsverwaltung. Heidelb., 1823, Bd. I. Das Realsystem
ist übrigens eine verhältnißmäßig ganz neue Einrichtung. Sieht man ab
von den allerdings, aber fast bewußtlos, gleichförmigen Einrichtungen
einiger Kolonieen und der aus solchen entstandenen Staaten, so war Frank-
reich der erste Staat, welcher ein logisch gebildetes Verwaltungssystem er-
hielt. Die verfassunggebende Versammlung legte den Grund, und unter
dem Consulate wurde das System zur formellen Vollkommenheit gebracht.
Dieses Beispiel haben aber itzt fast alle andern europäischen Staaten
allmälig nachgeahmt; zuletzt auch Oesterreich, welches freilich die An-
wendbarkeit einer solchen Gleichförmigkeit auf seine verschiedenen Be-
völkerungen und Verhältnisse erst noch zu erweisen hat. Nur England,
welches auch in seiner Verwaltung das Geschichtliche nach Möglichkeit er-
hält, mag noch als ein lebendes Beispiel von Provinzialverwaltung ange-
führt werden.
2) Eine ausführliche Erörterung über die Folgen des Realsystemes,
namentlich aber über die daraus, wo nicht mit Nothwendigkeit so doch sehr
leicht, entspringende Uebertreibung der Leitung aller Geschäfte aus dem
Mittelpunkte und durch die obersten Behörden, (Centralisation), s. in
meiner Geschichte und Literatur der St.-W., Bd. III, S. 197 fg. --
Geistreiche Bekämpfungen des letzten, in Frankreich gar sehr zu Tage ge-
tretenen, Uebels haben geliefert: Raudot, De la decadence de la
France. ed. 2, Par., 1850;
Ders., De la grandeur possible de la
France. Par., 1850; Richard, F., De l'administration interieure
de la France. I. II., Par.,
1851.
3) Die verschiedenen Eigenschaften des Collegial- und des Bureau-
systemes s. bei Malchus a. a. O., Bd. II, S. 1 u. fg.; nur ist zu be-
merken, daß dieser Staatsmann dem Einzel-Systeme in größerer Aus-

denn das Realſyſtem in dem Staate der Neuzeit entſtanden iſt,
während der Patrimonialſtaat mit weit geringerer Spaltung
und Zahl der Stellen beſtehen mochte. Freiwillige Dienſt-
leiſtungen endlich ſetzen einen Staat voraus, in welchem ſich
Vaterlandsliebe, Zufriedenheit und freie Bewegung entfalten
kann; vergeblich wird man alſo in ſtrengen Einherrſchaften auf
ſie rechnen; und in Theokratieen iſt ein Anerbieten Freiwilliger
zur Ausführung der Gebote wohl kaum vereinbar mit dem
Verhältniſſe des Menſchen zu der Gottheit.

1) Ueber den Begriff und die verſchiedenen Eigenſchaften des Real-
und des Provinzialſyſtemes ſ. vorzugsweiſe Malchus, C. A. von, Politik
der inneren Staatsverwaltung. Heidelb., 1823, Bd. I. Das Realſyſtem
iſt übrigens eine verhältnißmäßig ganz neue Einrichtung. Sieht man ab
von den allerdings, aber faſt bewußtlos, gleichförmigen Einrichtungen
einiger Kolonieen und der aus ſolchen entſtandenen Staaten, ſo war Frank-
reich der erſte Staat, welcher ein logiſch gebildetes Verwaltungsſyſtem er-
hielt. Die verfaſſunggebende Verſammlung legte den Grund, und unter
dem Conſulate wurde das Syſtem zur formellen Vollkommenheit gebracht.
Dieſes Beiſpiel haben aber itzt faſt alle andern europäiſchen Staaten
allmälig nachgeahmt; zuletzt auch Oeſterreich, welches freilich die An-
wendbarkeit einer ſolchen Gleichförmigkeit auf ſeine verſchiedenen Be-
völkerungen und Verhältniſſe erſt noch zu erweiſen hat. Nur England,
welches auch in ſeiner Verwaltung das Geſchichtliche nach Möglichkeit er-
hält, mag noch als ein lebendes Beiſpiel von Provinzialverwaltung ange-
führt werden.
2) Eine ausführliche Erörterung über die Folgen des Realſyſtemes,
namentlich aber über die daraus, wo nicht mit Nothwendigkeit ſo doch ſehr
leicht, entſpringende Uebertreibung der Leitung aller Geſchäfte aus dem
Mittelpunkte und durch die oberſten Behörden, (Centraliſation), ſ. in
meiner Geſchichte und Literatur der St.-W., Bd. III, S. 197 fg. —
Geiſtreiche Bekämpfungen des letzten, in Frankreich gar ſehr zu Tage ge-
tretenen, Uebels haben geliefert: Raudot, De la décadence de la
France. éd. 2, Par., 1850;
Derſ., De la grandeur possible de la
France. Par., 1850; Richard, F., De l’administration intérieure
de la France. I. II., Par.,
1851.
3) Die verſchiedenen Eigenſchaften des Collegial- und des Bureau-
ſyſtemes ſ. bei Malchus a. a. O., Bd. II, S. 1 u. fg.; nur iſt zu be-
merken, daß dieſer Staatsmann dem Einzel-Syſteme in größerer Aus-
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[654/0668] denn das Realſyſtem in dem Staate der Neuzeit entſtanden iſt, während der Patrimonialſtaat mit weit geringerer Spaltung und Zahl der Stellen beſtehen mochte. Freiwillige Dienſt- leiſtungen endlich ſetzen einen Staat voraus, in welchem ſich Vaterlandsliebe, Zufriedenheit und freie Bewegung entfalten kann; vergeblich wird man alſo in ſtrengen Einherrſchaften auf ſie rechnen; und in Theokratieen iſt ein Anerbieten Freiwilliger zur Ausführung der Gebote wohl kaum vereinbar mit dem Verhältniſſe des Menſchen zu der Gottheit. ¹⁾ Ueber den Begriff und die verſchiedenen Eigenſchaften des Real- und des Provinzialſyſtemes ſ. vorzugsweiſe Malchus, C. A. von, Politik der inneren Staatsverwaltung. Heidelb., 1823, Bd. I. Das Realſyſtem iſt übrigens eine verhältnißmäßig ganz neue Einrichtung. Sieht man ab von den allerdings, aber faſt bewußtlos, gleichförmigen Einrichtungen einiger Kolonieen und der aus ſolchen entſtandenen Staaten, ſo war Frank- reich der erſte Staat, welcher ein logiſch gebildetes Verwaltungsſyſtem er- hielt. Die verfaſſunggebende Verſammlung legte den Grund, und unter dem Conſulate wurde das Syſtem zur formellen Vollkommenheit gebracht. Dieſes Beiſpiel haben aber itzt faſt alle andern europäiſchen Staaten allmälig nachgeahmt; zuletzt auch Oeſterreich, welches freilich die An- wendbarkeit einer ſolchen Gleichförmigkeit auf ſeine verſchiedenen Be- völkerungen und Verhältniſſe erſt noch zu erweiſen hat. Nur England, welches auch in ſeiner Verwaltung das Geſchichtliche nach Möglichkeit er- hält, mag noch als ein lebendes Beiſpiel von Provinzialverwaltung ange- führt werden. ²⁾ Eine ausführliche Erörterung über die Folgen des Realſyſtemes, namentlich aber über die daraus, wo nicht mit Nothwendigkeit ſo doch ſehr leicht, entſpringende Uebertreibung der Leitung aller Geſchäfte aus dem Mittelpunkte und durch die oberſten Behörden, (Centraliſation), ſ. in meiner Geſchichte und Literatur der St.-W., Bd. III, S. 197 fg. — Geiſtreiche Bekämpfungen des letzten, in Frankreich gar ſehr zu Tage ge- tretenen, Uebels haben geliefert: Raudot, De la décadence de la France. éd. 2, Par., 1850; Derſ., De la grandeur possible de la France. Par., 1850; Richard, F., De l’administration intérieure de la France. I. II., Par., 1851. ³⁾ Die verſchiedenen Eigenſchaften des Collegial- und des Bureau- ſyſtemes ſ. bei Malchus a. a. O., Bd. II, S. 1 u. fg.; nur iſt zu be- merken, daß dieſer Staatsmann dem Einzel-Syſteme in größerer Aus-

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 654. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/668>, abgerufen am 27.04.2024.