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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Nicht nur ist ein die übrigen geistigen Eigenschaften und
Bedürfnisse des Menschen ebenfalls berücksichtigendes Leben
durchaus, und vielleicht selbst noch in höherem Grade als ein
einseitig religiöses, gestattet; sondern es kann einem Volke
auch nicht zum Vorwurfe gereichen, wenn es durch seine
Gesittigungsstufe oder durch den Drang der äußeren Verhältnisse
zu nächster Berücksichtigung der materiellen Lebensaufgaben
veranlaßt ist. Wenn also auch einem Volke, welches eine
ausschließlich religiöse Richtung hat, das Recht nicht bestritten
werden kann, sein Leben darnach einzurichten, und also auch
den Staat folgerichtig anzupassen: so folgt daraus noch nicht,
daß andere Völker, oder dasselbe Volk zu anderer Zeit, diese
Lebensansicht und Staatseinrichtung auch haben müssen. Die
Theokratie ist unter Umständen eine vollständig vertheidigbare
und selbst nothwendige Staatseinrichtung; allein sie ist nicht
die einzig denkbare und wirkliche. Also ist eine solche Begriffs-
fassung logisch zu enge und praktisch sehr bedrohlich. Wird
aber gar, wie dieß bei den Anhängern dieser Lehre in der
Regel, wo nicht immer, der Fall ist, die religiöse Lebensauf-
fassung ausschließlich auf ein bestimmtes Dogma gestützt, so
entsteht daraus entweder eine bis zur Verzerrung gehende
Verengerung des Staatsbegriffes, oder folgt ein allgemeiner
Glaubenszwang 6).

5. Wenn aber endlich, der Zweck des Staates in der
Herstellung einer sittlichen Einheit des Lebens, in der
Herrschaft des Sittengesetzes gefunden wird, (Aristoteles, Hegel,
Rößler): so ist hier nur eine negative Wahrheit ausgesprochen.
Unzweifelhaft soll und darf der Mensch, also auch die organisirte
Einheit eines Volkes, keinen unsittlichen Zweck verfolgen und
keine unsittlichen Mittel anwenden; allein hiermit ist eine
bestimmte, durch den Staat zu erreichende Aufgabe noch nicht
gesetzt. Die Ansichten darüber, was rein vernünftig, also

Nicht nur iſt ein die übrigen geiſtigen Eigenſchaften und
Bedürfniſſe des Menſchen ebenfalls berückſichtigendes Leben
durchaus, und vielleicht ſelbſt noch in höherem Grade als ein
einſeitig religiöſes, geſtattet; ſondern es kann einem Volke
auch nicht zum Vorwurfe gereichen, wenn es durch ſeine
Geſittigungsſtufe oder durch den Drang der äußeren Verhältniſſe
zu nächſter Berückſichtigung der materiellen Lebensaufgaben
veranlaßt iſt. Wenn alſo auch einem Volke, welches eine
ausſchließlich religiöſe Richtung hat, das Recht nicht beſtritten
werden kann, ſein Leben darnach einzurichten, und alſo auch
den Staat folgerichtig anzupaſſen: ſo folgt daraus noch nicht,
daß andere Völker, oder dasſelbe Volk zu anderer Zeit, dieſe
Lebensanſicht und Staatseinrichtung auch haben müſſen. Die
Theokratie iſt unter Umſtänden eine vollſtändig vertheidigbare
und ſelbſt nothwendige Staatseinrichtung; allein ſie iſt nicht
die einzig denkbare und wirkliche. Alſo iſt eine ſolche Begriffs-
faſſung logiſch zu enge und praktiſch ſehr bedrohlich. Wird
aber gar, wie dieß bei den Anhängern dieſer Lehre in der
Regel, wo nicht immer, der Fall iſt, die religiöſe Lebensauf-
faſſung ausſchließlich auf ein beſtimmtes Dogma geſtützt, ſo
entſteht daraus entweder eine bis zur Verzerrung gehende
Verengerung des Staatsbegriffes, oder folgt ein allgemeiner
Glaubenszwang 6).

5. Wenn aber endlich, der Zweck des Staates in der
Herſtellung einer ſittlichen Einheit des Lebens, in der
Herrſchaft des Sittengeſetzes gefunden wird, (Ariſtoteles, Hegel,
Rößler): ſo iſt hier nur eine negative Wahrheit ausgeſprochen.
Unzweifelhaft ſoll und darf der Menſch, alſo auch die organiſirte
Einheit eines Volkes, keinen unſittlichen Zweck verfolgen und
keine unſittlichen Mittel anwenden; allein hiermit iſt eine
beſtimmte, durch den Staat zu erreichende Aufgabe noch nicht
geſetzt. Die Anſichten darüber, was rein vernünftig, alſo

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[78/0092] Nicht nur iſt ein die übrigen geiſtigen Eigenſchaften und Bedürfniſſe des Menſchen ebenfalls berückſichtigendes Leben durchaus, und vielleicht ſelbſt noch in höherem Grade als ein einſeitig religiöſes, geſtattet; ſondern es kann einem Volke auch nicht zum Vorwurfe gereichen, wenn es durch ſeine Geſittigungsſtufe oder durch den Drang der äußeren Verhältniſſe zu nächſter Berückſichtigung der materiellen Lebensaufgaben veranlaßt iſt. Wenn alſo auch einem Volke, welches eine ausſchließlich religiöſe Richtung hat, das Recht nicht beſtritten werden kann, ſein Leben darnach einzurichten, und alſo auch den Staat folgerichtig anzupaſſen: ſo folgt daraus noch nicht, daß andere Völker, oder dasſelbe Volk zu anderer Zeit, dieſe Lebensanſicht und Staatseinrichtung auch haben müſſen. Die Theokratie iſt unter Umſtänden eine vollſtändig vertheidigbare und ſelbſt nothwendige Staatseinrichtung; allein ſie iſt nicht die einzig denkbare und wirkliche. Alſo iſt eine ſolche Begriffs- faſſung logiſch zu enge und praktiſch ſehr bedrohlich. Wird aber gar, wie dieß bei den Anhängern dieſer Lehre in der Regel, wo nicht immer, der Fall iſt, die religiöſe Lebensauf- faſſung ausſchließlich auf ein beſtimmtes Dogma geſtützt, ſo entſteht daraus entweder eine bis zur Verzerrung gehende Verengerung des Staatsbegriffes, oder folgt ein allgemeiner Glaubenszwang 6). 5. Wenn aber endlich, der Zweck des Staates in der Herſtellung einer ſittlichen Einheit des Lebens, in der Herrſchaft des Sittengeſetzes gefunden wird, (Ariſtoteles, Hegel, Rößler): ſo iſt hier nur eine negative Wahrheit ausgeſprochen. Unzweifelhaft ſoll und darf der Menſch, alſo auch die organiſirte Einheit eines Volkes, keinen unſittlichen Zweck verfolgen und keine unſittlichen Mittel anwenden; allein hiermit iſt eine beſtimmte, durch den Staat zu erreichende Aufgabe noch nicht geſetzt. Die Anſichten darüber, was rein vernünftig, alſo

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/92>, abgerufen am 01.11.2024.