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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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URSPRÜNGLICHE VERFASSUNG ROMS.
ist er ein Römer, so wird der Sohn, da er als Römer nicht
Knecht eines Römers werden kann, seinem Käufer an Knecht-
tes Statt und fällt von selbst zurück in die väterliche Gewalt,
so wie die Gewalt des Käufers über ihn gelöst ist. Diese
unerbittliche Consequenz, welche die väterliche und eheherr-
liche Gewalt in ein wahres Eigenthumsrecht umwandelte,
unterlag gar keinen Rechtsbeschränkungen; nur die Religion
sprach für einige der ärgsten Fälle einen Bannfluch aus,
dessen Execution indess den Göttern zukam, nicht der irdi-
schen Gerechtigkeit. So wurde der verwünscht, der seine
Ehefrau oder den verheiratheten Sohn verkaufte; und in ähn-
licher Weise wurde es durchgesetzt, dass bei der Ausübung
der häuslichen Gerichtsbarkeit der Vater und mehr noch der
Ehemann den Spruch über Kind und Frau nicht fällen durfte,
ohne vorher die nächsten Blutsverwandten, sowohl die seini-
gen wie die der Frau, zugezogen und befragt zu haben. --
So mächtig war die Einheit der Familie, dass selbst der Tod
des Hausherrn sie nicht vollständig löste. Die durch denselben
selbstständig gewordenen Descendenten betrachten sich noch
in vieler Hinsicht als eine Einheit, wovon bei der Erbfolge
und in manchen andern Beziehungen Gebrauch gemacht wird,
vor allen Dingen aber für die Stellung der Wittwe und der
unverheiratheten Töchter. Da nach älterer römischer Ansicht
das Weib nicht fähig ist weder über Andere noch über sich
die Gewalt zu haben, so bleibt die Gewalt über sie oder, wie
sie hier mit milderem Ausdruck heisst, die Hut (tutela) bei
der Familie nach wie vor, nur dass diese statt des verstor-
benen Hausherrn jetzt ausgeübt wird durch die Gesammtheit
der nächsten männlichen Familienglieder, regelmässig also über
die Mutter durch die Söhne, über die Schwestern durch die
Brüder. In diesem Sinne dauerte die einmal gegründete Fa-
milie unverändert fort, bis sie ausstarb; nur musste freilich
von Generation zu Generation factisch das Band sich lockern
und die Möglichkeit des Nachweises der ursprünglichen Ein-
heit allmählig verschwinden. Hierauf und hierauf allein beruht
der Unterschied der Familie und des Geschlechts, oder nach
römischem Ausdruck der Agnaten und Gentilen. Beide be-
zeichnen den Mannsstamm; die Familie aber umfasst nur die-
jenigen Individuen, welche von Generation zu Generation
aufsteigend den Grad ihrer Abstammung von einem gemein-
schaftlichen Stammherrn nachzuweisen vermögen, das Ge-
schlecht dagegen auch diejenigen, welche bloss die Abstammung

4 *

URSPRÜNGLICHE VERFASSUNG ROMS.
ist er ein Römer, so wird der Sohn, da er als Römer nicht
Knecht eines Römers werden kann, seinem Käufer an Knecht-
tes Statt und fällt von selbst zurück in die väterliche Gewalt,
so wie die Gewalt des Käufers über ihn gelöst ist. Diese
unerbittliche Consequenz, welche die väterliche und eheherr-
liche Gewalt in ein wahres Eigenthumsrecht umwandelte,
unterlag gar keinen Rechtsbeschränkungen; nur die Religion
sprach für einige der ärgsten Fälle einen Bannfluch aus,
dessen Execution indeſs den Göttern zukam, nicht der irdi-
schen Gerechtigkeit. So wurde der verwünscht, der seine
Ehefrau oder den verheiratheten Sohn verkaufte; und in ähn-
licher Weise wurde es durchgesetzt, daſs bei der Ausübung
der häuslichen Gerichtsbarkeit der Vater und mehr noch der
Ehemann den Spruch über Kind und Frau nicht fällen durfte,
ohne vorher die nächsten Blutsverwandten, sowohl die seini-
gen wie die der Frau, zugezogen und befragt zu haben. —
So mächtig war die Einheit der Familie, daſs selbst der Tod
des Hausherrn sie nicht vollständig löste. Die durch denselben
selbstständig gewordenen Descendenten betrachten sich noch
in vieler Hinsicht als eine Einheit, wovon bei der Erbfolge
und in manchen andern Beziehungen Gebrauch gemacht wird,
vor allen Dingen aber für die Stellung der Wittwe und der
unverheiratheten Töchter. Da nach älterer römischer Ansicht
das Weib nicht fähig ist weder über Andere noch über sich
die Gewalt zu haben, so bleibt die Gewalt über sie oder, wie
sie hier mit milderem Ausdruck heiſst, die Hut (tutela) bei
der Familie nach wie vor, nur dass diese statt des verstor-
benen Hausherrn jetzt ausgeübt wird durch die Gesammtheit
der nächsten männlichen Familienglieder, regelmäſsig also über
die Mutter durch die Söhne, über die Schwestern durch die
Brüder. In diesem Sinne dauerte die einmal gegründete Fa-
milie unverändert fort, bis sie ausstarb; nur muſste freilich
von Generation zu Generation factisch das Band sich lockern
und die Möglichkeit des Nachweises der ursprünglichen Ein-
heit allmählig verschwinden. Hierauf und hierauf allein beruht
der Unterschied der Familie und des Geschlechts, oder nach
römischem Ausdruck der Agnaten und Gentilen. Beide be-
zeichnen den Mannsstamm; die Familie aber umfaſst nur die-
jenigen Individuen, welche von Generation zu Generation
aufsteigend den Grad ihrer Abstammung von einem gemein-
schaftlichen Stammherrn nachzuweisen vermögen, das Ge-
schlecht dagegen auch diejenigen, welche bloſs die Abstammung

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[51/0065] URSPRÜNGLICHE VERFASSUNG ROMS. ist er ein Römer, so wird der Sohn, da er als Römer nicht Knecht eines Römers werden kann, seinem Käufer an Knecht- tes Statt und fällt von selbst zurück in die väterliche Gewalt, so wie die Gewalt des Käufers über ihn gelöst ist. Diese unerbittliche Consequenz, welche die väterliche und eheherr- liche Gewalt in ein wahres Eigenthumsrecht umwandelte, unterlag gar keinen Rechtsbeschränkungen; nur die Religion sprach für einige der ärgsten Fälle einen Bannfluch aus, dessen Execution indeſs den Göttern zukam, nicht der irdi- schen Gerechtigkeit. So wurde der verwünscht, der seine Ehefrau oder den verheiratheten Sohn verkaufte; und in ähn- licher Weise wurde es durchgesetzt, daſs bei der Ausübung der häuslichen Gerichtsbarkeit der Vater und mehr noch der Ehemann den Spruch über Kind und Frau nicht fällen durfte, ohne vorher die nächsten Blutsverwandten, sowohl die seini- gen wie die der Frau, zugezogen und befragt zu haben. — So mächtig war die Einheit der Familie, daſs selbst der Tod des Hausherrn sie nicht vollständig löste. Die durch denselben selbstständig gewordenen Descendenten betrachten sich noch in vieler Hinsicht als eine Einheit, wovon bei der Erbfolge und in manchen andern Beziehungen Gebrauch gemacht wird, vor allen Dingen aber für die Stellung der Wittwe und der unverheiratheten Töchter. Da nach älterer römischer Ansicht das Weib nicht fähig ist weder über Andere noch über sich die Gewalt zu haben, so bleibt die Gewalt über sie oder, wie sie hier mit milderem Ausdruck heiſst, die Hut (tutela) bei der Familie nach wie vor, nur dass diese statt des verstor- benen Hausherrn jetzt ausgeübt wird durch die Gesammtheit der nächsten männlichen Familienglieder, regelmäſsig also über die Mutter durch die Söhne, über die Schwestern durch die Brüder. In diesem Sinne dauerte die einmal gegründete Fa- milie unverändert fort, bis sie ausstarb; nur muſste freilich von Generation zu Generation factisch das Band sich lockern und die Möglichkeit des Nachweises der ursprünglichen Ein- heit allmählig verschwinden. Hierauf und hierauf allein beruht der Unterschied der Familie und des Geschlechts, oder nach römischem Ausdruck der Agnaten und Gentilen. Beide be- zeichnen den Mannsstamm; die Familie aber umfaſst nur die- jenigen Individuen, welche von Generation zu Generation aufsteigend den Grad ihrer Abstammung von einem gemein- schaftlichen Stammherrn nachzuweisen vermögen, das Ge- schlecht dagegen auch diejenigen, welche bloſs die Abstammung 4 *

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/65>, abgerufen am 29.04.2024.