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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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nicht bloss die italischen Grenzen und fing an sie zu überschrei-
ten, sondern sie gelangte auch in sich zu tieferer geistiger Be-
gründung. Wir werden sie im Zuge finden eine klassische Litte-
ratur, einen eigenen höheren Unterricht sich zu schaffen; und
wenn man auch im Vergleich mit den hellenischen Klassikern und
der hellenischen Bildung sich versucht fühlen konnte die schwäch-
liche italische Treibhausproduction gering zu achten, so kam es
doch, namentlich in einer auch bei den Hellenen geistig tief herab-
gekommenen Zeit, für die geschichtliche Entwickelung zunächst
weit weniger darauf an, wie die lateinische klassische Litteratur
und die lateinische Bildung, als darauf, dass sie neben der grie-
chischen stand -- wohl durfte man das Wort des Dichters auch
hier anwenden, dass der lebendige Tagelöhner mehr ist als der
todte Aias. -- Wie rasch und ungestüm aber auch die lateinische
Sprache und Nationalität vorwärts dringt, sie erkennt zugleich
die hellenische an als durchaus gleich, ja früher und besser berech-
tigt und tritt mit dieser überall in das engste Bündniss oder durch-
dringt sich mit ihr zu gemeinschaftlicher Entwickelung. Die ita-
lische Revolution, die sonst alle nichtlatinischen Nationalitäten
auf der Halbinsel nivellirte, rührte nicht an die Griechenstädte
Tarent, Rhegion, Neapolis, Lokroi (S. 231). Ebenso blieb Mas-
salia, obwohl jetzt umschlossen von römischem Gebiet, fortwäh-
rend eine griechische Stadt und eben als solche fest angeschlos-
sen an Rom. Mit der vollständigen Latinisirung Italiens ging die
steigende Hellenisirung Hand in Hand. In den höheren Schichten
der italischen Gesellschaft wurde die griechische Bildung zum
integrirenden Bestandtheil der eigenen. Der Consul des J. 623,
der Oberpontifex Publius Crassus erregte das Staunen selbst der
kleinasiatischen Griechen, da er als Statthalter von Asia seine ge-
richtlichen Entscheidungen, wie der Fall es erforderte, bald in
gewöhnlichem Griechisch abgab, bald in einem der vier zu Schrift-
sprachen gewordenen Dialekte. Und wenn die italische Litteratur
und Kunst längst unverwandt nach Osten blickte, so begann jetzt
auch die hellenische das Antlitz nach Westen zu wenden. Nicht
bloss die griechischen Städte in Italien blieben fortwährend in re-
gem geistigem Verkehr mit Griechenland, Kleinasien, Aegypten und
gönnten den dort gefeierten griechischen Poeten und Schauspielern
auch bei sich den gleichen Verdienst und die gleichen Ehren; auch
in Rom wurden jetzt, zuerst 608 bei dem Triumph des Zerstörers
von Korinth, die musischen Spiele der Griechen, Wettkämpfe im
Ringen, Spielen, Recitiren und Declamiren gehalten. Die griechi-
schen Litteraten schlugen schon ihre Fäden bis in die vornehme

VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
nicht bloſs die italischen Grenzen und fing an sie zu überschrei-
ten, sondern sie gelangte auch in sich zu tieferer geistiger Be-
gründung. Wir werden sie im Zuge finden eine klassische Litte-
ratur, einen eigenen höheren Unterricht sich zu schaffen; und
wenn man auch im Vergleich mit den hellenischen Klassikern und
der hellenischen Bildung sich versucht fühlen konnte die schwäch-
liche italische Treibhausproduction gering zu achten, so kam es
doch, namentlich in einer auch bei den Hellenen geistig tief herab-
gekommenen Zeit, für die geschichtliche Entwickelung zunächst
weit weniger darauf an, wie die lateinische klassische Litteratur
und die lateinische Bildung, als darauf, daſs sie neben der grie-
chischen stand — wohl durfte man das Wort des Dichters auch
hier anwenden, daſs der lebendige Tagelöhner mehr ist als der
todte Aias. — Wie rasch und ungestüm aber auch die lateinische
Sprache und Nationalität vorwärts dringt, sie erkennt zugleich
die hellenische an als durchaus gleich, ja früher und besser berech-
tigt und tritt mit dieser überall in das engste Bündniſs oder durch-
dringt sich mit ihr zu gemeinschaftlicher Entwickelung. Die ita-
lische Revolution, die sonst alle nichtlatinischen Nationalitäten
auf der Halbinsel nivellirte, rührte nicht an die Griechenstädte
Tarent, Rhegion, Neapolis, Lokroi (S. 231). Ebenso blieb Mas-
salia, obwohl jetzt umschlossen von römischem Gebiet, fortwäh-
rend eine griechische Stadt und eben als solche fest angeschlos-
sen an Rom. Mit der vollständigen Latinisirung Italiens ging die
steigende Hellenisirung Hand in Hand. In den höheren Schichten
der italischen Gesellschaft wurde die griechische Bildung zum
integrirenden Bestandtheil der eigenen. Der Consul des J. 623,
der Oberpontifex Publius Crassus erregte das Staunen selbst der
kleinasiatischen Griechen, da er als Statthalter von Asia seine ge-
richtlichen Entscheidungen, wie der Fall es erforderte, bald in
gewöhnlichem Griechisch abgab, bald in einem der vier zu Schrift-
sprachen gewordenen Dialekte. Und wenn die italische Litteratur
und Kunst längst unverwandt nach Osten blickte, so begann jetzt
auch die hellenische das Antlitz nach Westen zu wenden. Nicht
bloſs die griechischen Städte in Italien blieben fortwährend in re-
gem geistigem Verkehr mit Griechenland, Kleinasien, Aegypten und
gönnten den dort gefeierten griechischen Poeten und Schauspielern
auch bei sich den gleichen Verdienst und die gleichen Ehren; auch
in Rom wurden jetzt, zuerst 608 bei dem Triumph des Zerstörers
von Korinth, die musischen Spiele der Griechen, Wettkämpfe im
Ringen, Spielen, Recitiren und Declamiren gehalten. Die griechi-
schen Litteraten schlugen schon ihre Fäden bis in die vornehme

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[388/0398] VIERTES BUCH. KAPITEL XII. nicht bloſs die italischen Grenzen und fing an sie zu überschrei- ten, sondern sie gelangte auch in sich zu tieferer geistiger Be- gründung. Wir werden sie im Zuge finden eine klassische Litte- ratur, einen eigenen höheren Unterricht sich zu schaffen; und wenn man auch im Vergleich mit den hellenischen Klassikern und der hellenischen Bildung sich versucht fühlen konnte die schwäch- liche italische Treibhausproduction gering zu achten, so kam es doch, namentlich in einer auch bei den Hellenen geistig tief herab- gekommenen Zeit, für die geschichtliche Entwickelung zunächst weit weniger darauf an, wie die lateinische klassische Litteratur und die lateinische Bildung, als darauf, daſs sie neben der grie- chischen stand — wohl durfte man das Wort des Dichters auch hier anwenden, daſs der lebendige Tagelöhner mehr ist als der todte Aias. — Wie rasch und ungestüm aber auch die lateinische Sprache und Nationalität vorwärts dringt, sie erkennt zugleich die hellenische an als durchaus gleich, ja früher und besser berech- tigt und tritt mit dieser überall in das engste Bündniſs oder durch- dringt sich mit ihr zu gemeinschaftlicher Entwickelung. Die ita- lische Revolution, die sonst alle nichtlatinischen Nationalitäten auf der Halbinsel nivellirte, rührte nicht an die Griechenstädte Tarent, Rhegion, Neapolis, Lokroi (S. 231). Ebenso blieb Mas- salia, obwohl jetzt umschlossen von römischem Gebiet, fortwäh- rend eine griechische Stadt und eben als solche fest angeschlos- sen an Rom. Mit der vollständigen Latinisirung Italiens ging die steigende Hellenisirung Hand in Hand. In den höheren Schichten der italischen Gesellschaft wurde die griechische Bildung zum integrirenden Bestandtheil der eigenen. Der Consul des J. 623, der Oberpontifex Publius Crassus erregte das Staunen selbst der kleinasiatischen Griechen, da er als Statthalter von Asia seine ge- richtlichen Entscheidungen, wie der Fall es erforderte, bald in gewöhnlichem Griechisch abgab, bald in einem der vier zu Schrift- sprachen gewordenen Dialekte. Und wenn die italische Litteratur und Kunst längst unverwandt nach Osten blickte, so begann jetzt auch die hellenische das Antlitz nach Westen zu wenden. Nicht bloſs die griechischen Städte in Italien blieben fortwährend in re- gem geistigem Verkehr mit Griechenland, Kleinasien, Aegypten und gönnten den dort gefeierten griechischen Poeten und Schauspielern auch bei sich den gleichen Verdienst und die gleichen Ehren; auch in Rom wurden jetzt, zuerst 608 bei dem Triumph des Zerstörers von Korinth, die musischen Spiele der Griechen, Wettkämpfe im Ringen, Spielen, Recitiren und Declamiren gehalten. Die griechi- schen Litteraten schlugen schon ihre Fäden bis in die vornehme

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/398>, abgerufen am 28.04.2024.