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Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783.

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Mein Plan aber ist folgender: ich suche an einem
jungen Menschen, den ich zum erstenmale
sehe, sogleich das Auffallende zu bemerken. Denn
was uns oft beim ersten Anblick auffällt, das über-
sehen wir nachher schon leichter, wenn wir mit dem
Subjekte bekannter geworden sind, und uns an
sein Gesicht, seine Mienen, u. s. w. gewöhnt haben.

Freilich kann man sich beim ersten Anblick oft
sehr in einer Person irren, aber selbst dieser Jrr-
thum hat nachher seine Vortheile. Wenn man
nur nicht gleich im Anfange etwas festsetzt, sondern
sich gleichsam erst einen ohngefähren Grundriß zu
seinen künftigen Beobachtungen zu entwerfen sucht,
der nachher noch immer wieder abgeändert werden
kann. Auch kömmt dieses noch zu statten, daß
man gegen denjenigen, welchen man zum ersten-
male siehet, gemeiniglich weder ein gutes noch ein
böses Vorurtheil gefaßt hat, und also, in Ansehung
der Unpartheilichkeit, seinen Beobachtungen am
besten trauen kann.

Das Unterscheidende in der Gesichtsbildung,
das mit dieser etwa Uebereinstimmende im Tone,
im Gange, und jeder körperlichen Bewegung; Al-
ter und Erziehung, in so fern ich von dem Stande
seiner Eltern, oder aus andern Nachrichten auf die-
selbe schließen kann, sind mir zuerst merkwürdig.

Dann werde ich erst das Zutrauen des jun-
gen Menschen zu gewinnen suchen, um auf zweck-
mäßige an ihn zu richtende Fragen, aufrichtige

und

Mein Plan aber ist folgender: ich suche an einem
jungen Menschen, den ich zum erstenmale
sehe, sogleich das Auffallende zu bemerken. Denn
was uns oft beim ersten Anblick auffaͤllt, das uͤber-
sehen wir nachher schon leichter, wenn wir mit dem
Subjekte bekannter geworden sind, und uns an
sein Gesicht, seine Mienen, u. s. w. gewoͤhnt haben.

Freilich kann man sich beim ersten Anblick oft
sehr in einer Person irren, aber selbst dieser Jrr-
thum hat nachher seine Vortheile. Wenn man
nur nicht gleich im Anfange etwas festsetzt, sondern
sich gleichsam erst einen ohngefaͤhren Grundriß zu
seinen kuͤnftigen Beobachtungen zu entwerfen sucht,
der nachher noch immer wieder abgeaͤndert werden
kann. Auch koͤmmt dieses noch zu statten, daß
man gegen denjenigen, welchen man zum ersten-
male siehet, gemeiniglich weder ein gutes noch ein
boͤses Vorurtheil gefaßt hat, und also, in Ansehung
der Unpartheilichkeit, seinen Beobachtungen am
besten trauen kann.

Das Unterscheidende in der Gesichtsbildung,
das mit dieser etwa Uebereinstimmende im Tone,
im Gange, und jeder koͤrperlichen Bewegung; Al-
ter und Erziehung, in so fern ich von dem Stande
seiner Eltern, oder aus andern Nachrichten auf die-
selbe schließen kann, sind mir zuerst merkwuͤrdig.

Dann werde ich erst das Zutrauen des jun-
gen Menschen zu gewinnen suchen, um auf zweck-
maͤßige an ihn zu richtende Fragen, aufrichtige

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[108/0112] Mein Plan aber ist folgender: ich suche an einem jungen Menschen, den ich zum erstenmale sehe, sogleich das Auffallende zu bemerken. Denn was uns oft beim ersten Anblick auffaͤllt, das uͤber- sehen wir nachher schon leichter, wenn wir mit dem Subjekte bekannter geworden sind, und uns an sein Gesicht, seine Mienen, u. s. w. gewoͤhnt haben. Freilich kann man sich beim ersten Anblick oft sehr in einer Person irren, aber selbst dieser Jrr- thum hat nachher seine Vortheile. Wenn man nur nicht gleich im Anfange etwas festsetzt, sondern sich gleichsam erst einen ohngefaͤhren Grundriß zu seinen kuͤnftigen Beobachtungen zu entwerfen sucht, der nachher noch immer wieder abgeaͤndert werden kann. Auch koͤmmt dieses noch zu statten, daß man gegen denjenigen, welchen man zum ersten- male siehet, gemeiniglich weder ein gutes noch ein boͤses Vorurtheil gefaßt hat, und also, in Ansehung der Unpartheilichkeit, seinen Beobachtungen am besten trauen kann. Das Unterscheidende in der Gesichtsbildung, das mit dieser etwa Uebereinstimmende im Tone, im Gange, und jeder koͤrperlichen Bewegung; Al- ter und Erziehung, in so fern ich von dem Stande seiner Eltern, oder aus andern Nachrichten auf die- selbe schließen kann, sind mir zuerst merkwuͤrdig. Dann werde ich erst das Zutrauen des jun- gen Menschen zu gewinnen suchen, um auf zweck- maͤßige an ihn zu richtende Fragen, aufrichtige und

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01_1783/112>, abgerufen am 28.04.2024.