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Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783.

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Der Traum.

Jch hatte einen Oheim, meiner Mutter Bruder,
einen Prediger auf dem Lande, nicht weit von Halle.
Zwei Jahre lang, nach dem frühzeitigen Tode mei-
nes Vaters, war er mir ein anderer Vater gewe-
sen. Er sorgte für mich; er liebte mich; alle
Stunden, die er etwa von Amts oder anderen Ge-
schäften und Zerstreuungen übrig hatte, widmete
er meiner Bildung. Meine ganze kindliche Liebe,
Zärtlichkeit und Verehrung mußte ihm ja wohl ge-
hören!

Jn meinem zehnten Jahre kam ich von ihm
in's Waisenhaus nach Halle. Hier nun träumt'
ich einstens, wie Diebe das Haus meines geliebten
Oheims bestöhlen; ich sahe sie einbrechen, sahe sie
dieser, sahe sie jener Sache sich bemächtigen. Jch
bemerkte das alles so deutlich, als säh' ich's am
lichten Tage mit offenem Auge. Jch war voller
Angst und nicht geringer Besorgniß, selbst für das
Leben meines Oheims. Jch erwachte und ängstigte
mich immerfort, bis ich mit meinen andern Mit-
schülern um die gewöhnliche Zeit aufstand.

Jch erzählte sogleich meinen Traum. Wir
gingen nachher zusammen in die Unterrichtsstun-
den, und noch denselben Vormittag ward ich her-
ausgerufen. Ein Fremder, hieß es, wolle mich
sprechen. Siehe da, es war mein Oheim. Jch

lief
F2

Der Traum.

Jch hatte einen Oheim, meiner Mutter Bruder,
einen Prediger auf dem Lande, nicht weit von Halle.
Zwei Jahre lang, nach dem fruͤhzeitigen Tode mei-
nes Vaters, war er mir ein anderer Vater gewe-
sen. Er sorgte fuͤr mich; er liebte mich; alle
Stunden, die er etwa von Amts oder anderen Ge-
schaͤften und Zerstreuungen uͤbrig hatte, widmete
er meiner Bildung. Meine ganze kindliche Liebe,
Zaͤrtlichkeit und Verehrung mußte ihm ja wohl ge-
hoͤren!

Jn meinem zehnten Jahre kam ich von ihm
in's Waisenhaus nach Halle. Hier nun traͤumt'
ich einstens, wie Diebe das Haus meines geliebten
Oheims bestoͤhlen; ich sahe sie einbrechen, sahe sie
dieser, sahe sie jener Sache sich bemaͤchtigen. Jch
bemerkte das alles so deutlich, als saͤh' ich's am
lichten Tage mit offenem Auge. Jch war voller
Angst und nicht geringer Besorgniß, selbst fuͤr das
Leben meines Oheims. Jch erwachte und aͤngstigte
mich immerfort, bis ich mit meinen andern Mit-
schuͤlern um die gewoͤhnliche Zeit aufstand.

Jch erzaͤhlte sogleich meinen Traum. Wir
gingen nachher zusammen in die Unterrichtsstun-
den, und noch denselben Vormittag ward ich her-
ausgerufen. Ein Fremder, hieß es, wolle mich
sprechen. Siehe da, es war mein Oheim. Jch

lief
F2
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[83/0087] Der Traum. Jch hatte einen Oheim, meiner Mutter Bruder, einen Prediger auf dem Lande, nicht weit von Halle. Zwei Jahre lang, nach dem fruͤhzeitigen Tode mei- nes Vaters, war er mir ein anderer Vater gewe- sen. Er sorgte fuͤr mich; er liebte mich; alle Stunden, die er etwa von Amts oder anderen Ge- schaͤften und Zerstreuungen uͤbrig hatte, widmete er meiner Bildung. Meine ganze kindliche Liebe, Zaͤrtlichkeit und Verehrung mußte ihm ja wohl ge- hoͤren! Jn meinem zehnten Jahre kam ich von ihm in's Waisenhaus nach Halle. Hier nun traͤumt' ich einstens, wie Diebe das Haus meines geliebten Oheims bestoͤhlen; ich sahe sie einbrechen, sahe sie dieser, sahe sie jener Sache sich bemaͤchtigen. Jch bemerkte das alles so deutlich, als saͤh' ich's am lichten Tage mit offenem Auge. Jch war voller Angst und nicht geringer Besorgniß, selbst fuͤr das Leben meines Oheims. Jch erwachte und aͤngstigte mich immerfort, bis ich mit meinen andern Mit- schuͤlern um die gewoͤhnliche Zeit aufstand. Jch erzaͤhlte sogleich meinen Traum. Wir gingen nachher zusammen in die Unterrichtsstun- den, und noch denselben Vormittag ward ich her- ausgerufen. Ein Fremder, hieß es, wolle mich sprechen. Siehe da, es war mein Oheim. Jch lief F2

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01_1783/87>, abgerufen am 29.04.2024.