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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.

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streuen. Es schlug eben drei Uhr, und er legte sich etwas beruhigt wieder nieder. Dießmahl nahm seine Phantasie eine andere Richtung, er dachte jetzt im Traume über seinen Traum nach, und verfertigte im Schlafe folgendes Gedicht,*) welches er

*) Holde, süße Phantasei!
Jmmer würksam, immer neu.
Dank sei deinen Zauberbildern,
Die mein hartes Schicksal mildern!
Dank dir, daß mir deine Kraft
Freude noch zum Leben schaft!
O! wie manchen langen Tag
Jrr' ich deinem Blendwerk nach!
Jm Vergangenen verlohren,
Jn der Zukunft neu gebohren,
Wachend, träumend, dort und hier!
Folg ich immer freudig dir.
Ein Gesicht verschwindet kaum,
Winkt mir schon ein neuer Traum,
Sink' ich kraftlos und beladen.
Reichst du mir den goldnen Faden,
Der mein traurendes Gemüth
Sanft zu dir hinüber zieht.
Holde, süße Phantasie!
Täuscherinn! verlaß mich nie!
Nur im Kreise deiner Kinder
Eilt die Zeit mir hin geschwinder,
Weiche nimmermehr von mir!
Auch im Tode folg ich dir.


streuen. Es schlug eben drei Uhr, und er legte sich etwas beruhigt wieder nieder. Dießmahl nahm seine Phantasie eine andere Richtung, er dachte jetzt im Traume uͤber seinen Traum nach, und verfertigte im Schlafe folgendes Gedicht,*) welches er

*) Holde, suͤße Phantasei!
Jmmer wuͤrksam, immer neu.
Dank sei deinen Zauberbildern,
Die mein hartes Schicksal mildern!
Dank dir, daß mir deine Kraft
Freude noch zum Leben schaft!
O! wie manchen langen Tag
Jrr' ich deinem Blendwerk nach!
Jm Vergangenen verlohren,
Jn der Zukunft neu gebohren,
Wachend, traͤumend, dort und hier!
Folg ich immer freudig dir.
Ein Gesicht verschwindet kaum,
Winkt mir schon ein neuer Traum,
Sink' ich kraftlos und beladen.
Reichst du mir den goldnen Faden,
Der mein traurendes Gemuͤth
Sanft zu dir hinuͤber zieht.
Holde, suͤße Phantasie!
Taͤuscherinn! verlaß mich nie!
Nur im Kreise deiner Kinder
Eilt die Zeit mir hin geschwinder,
Weiche nimmermehr von mir!
Auch im Tode folg ich dir.
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[59/0061] streuen. Es schlug eben drei Uhr, und er legte sich etwas beruhigt wieder nieder. Dießmahl nahm seine Phantasie eine andere Richtung, er dachte jetzt im Traume uͤber seinen Traum nach, und verfertigte im Schlafe folgendes Gedicht,*) welches er *) Holde, suͤße Phantasei! Jmmer wuͤrksam, immer neu. Dank sei deinen Zauberbildern, Die mein hartes Schicksal mildern! Dank dir, daß mir deine Kraft Freude noch zum Leben schaft! O! wie manchen langen Tag Jrr' ich deinem Blendwerk nach! Jm Vergangenen verlohren, Jn der Zukunft neu gebohren, Wachend, traͤumend, dort und hier! Folg ich immer freudig dir. Ein Gesicht verschwindet kaum, Winkt mir schon ein neuer Traum, Sink' ich kraftlos und beladen. Reichst du mir den goldnen Faden, Der mein traurendes Gemuͤth Sanft zu dir hinuͤber zieht. Holde, suͤße Phantasie! Taͤuscherinn! verlaß mich nie! Nur im Kreise deiner Kinder Eilt die Zeit mir hin geschwinder, Weiche nimmermehr von mir! Auch im Tode folg ich dir.

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/61>, abgerufen am 14.05.2024.