Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

Denn so wie die Liebe die höchste Vollendung
unsres empfindenden Wesens ist, so ist die Hervor¬
bringung des Schönen die höchste Vollendung unsrer
thätigen Kraft -- und die höchste Liebe muss wie¬
der in Hervorbringung, in Zeugung, wo nicht in die
süsseste Auflösung des liebenden Wesens hinüber
gehn. --

Nun sind freilich die Begriffe von Aufopferung,
Liebe und Sehnsucht selber viel zu süss, als dass wir
sie wieder entbehren könnten, sobald wir sie einmal
haben, oder ihr Daseyn nicht wünschen sollten, so¬
bald wir sie einmal kennen. --

Es scheint nichts Höheres zu geben, dem die
Aufopferung selbst wieder müsste aufgeopfert wer¬
den. -- Und das Schöne hinwegwünschen, weil
unter ihm die Stärke erliegt, hiesse auch, die Stärke
hinweg wünschen, weil unter ihm die Schwäche er¬
liegt; den Menschen, weil er mit zerstöhrender Hand
die freie Thierwelt sich unterjocht; die ganze lebende
Welt, weil sie unaufhörlich die unschuldige Pflanzen¬
welt zerstöhrt; und zuletzt auch die leblose Pflanzen¬
welt, weil sie die unzerstöhrbaren Theile des organi¬
sirten Stoffs, aus ihrer natürlichen Gleichheit reisst,
und sie, durch die trügerische Bildung und Form zum
erstenmale der Zerstöhrung unterwirft.

Das einfachste Pflanzengewebe muss für seinen
Raub an den noch einfachern Elementen, schon durch

Auf¬

Denn ſo wie die Liebe die höchſte Vollendung
unſres empfindenden Weſens iſt, ſo iſt die Hervor¬
bringung des Schönen die höchſte Vollendung unſrer
thätigen Kraft — und die höchſte Liebe muſs wie¬
der in Hervorbringung, in Zeugung, wo nicht in die
ſüsſeſte Auflöſung des liebenden Weſens hinüber
gehn. —

Nun ſind freilich die Begriffe von Aufopferung,
Liebe und Sehnſucht ſelber viel zu ſüſs, als daſs wir
ſie wieder entbehren könnten, ſobald wir ſie einmal
haben, oder ihr Daſeyn nicht wünſchen ſollten, ſo¬
bald wir ſie einmal kennen. —

Es ſcheint nichts Höheres zu geben, dem die
Aufopferung ſelbſt wieder müſste aufgeopfert wer¬
den. — Und das Schöne hinwegwünſchen, weil
unter ihm die Stärke erliegt, hiesſe auch, die Stärke
hinweg wünſchen, weil unter ihm die Schwäche er¬
liegt; den Menſchen, weil er mit zerſtöhrender Hand
die freie Thierwelt ſich unterjocht; die ganze lebende
Welt, weil ſie unaufhörlich die unſchuldige Pflanzen¬
welt zerſtöhrt; und zuletzt auch die lebloſe Pflanzen¬
welt, weil ſie die unzerſtöhrbaren Theile des organi¬
ſirten Stoffs, aus ihrer natürlichen Gleichheit reiſst,
und ſie, durch die trügeriſche Bildung und Form zum
erſtenmale der Zerſtöhrung unterwirft.

Das einfachſte Pflanzengewebe muſs für ſeinen
Raub an den noch einfachern Elementen, ſchon durch

Auf¬
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0048" n="42"/>
      <p>Denn &#x017F;o wie die Liebe die höch&#x017F;te Vollendung<lb/>
un&#x017F;res empfindenden We&#x017F;ens i&#x017F;t, &#x017F;o i&#x017F;t die Hervor¬<lb/>
bringung des Schönen die höch&#x017F;te Vollendung un&#x017F;rer<lb/>
thätigen Kraft &#x2014; und die höch&#x017F;te Liebe mu&#x017F;s wie¬<lb/>
der in Hervorbringung, in Zeugung, wo nicht in die<lb/>
&#x017F;üs&#x017F;e&#x017F;te Auflö&#x017F;ung des liebenden We&#x017F;ens hinüber<lb/>
gehn. &#x2014;</p><lb/>
      <p>Nun &#x017F;ind freilich die Begriffe von Aufopferung,<lb/>
Liebe und Sehn&#x017F;ucht &#x017F;elber viel zu &#x017F;ü&#x017F;s, als da&#x017F;s wir<lb/>
&#x017F;ie wieder entbehren könnten, &#x017F;obald wir &#x017F;ie einmal<lb/>
haben, oder ihr Da&#x017F;eyn nicht wün&#x017F;chen &#x017F;ollten, &#x017F;<lb/>
bald wir &#x017F;ie einmal kennen. &#x2014;</p><lb/>
      <p>Es &#x017F;cheint nichts Höheres zu geben, dem die<lb/>
Aufopferung &#x017F;elb&#x017F;t wieder mü&#x017F;ste aufgeopfert wer¬<lb/>
den. &#x2014; Und das Schöne hinwegwün&#x017F;chen, weil<lb/>
unter ihm die Stärke erliegt, hies&#x017F;e auch, die Stärke<lb/>
hinweg wün&#x017F;chen, weil unter ihm die Schwäche er¬<lb/>
liegt; den Men&#x017F;chen, weil er mit zer&#x017F;töhrender Hand<lb/>
die freie Thierwelt &#x017F;ich unterjocht; die ganze lebende<lb/>
Welt, weil &#x017F;ie unaufhörlich die un&#x017F;chuldige Pflanzen¬<lb/>
welt zer&#x017F;töhrt; und zuletzt auch die leblo&#x017F;e Pflanzen¬<lb/>
welt, weil &#x017F;ie die unzer&#x017F;töhrbaren Theile des organi¬<lb/>
&#x017F;irten Stoffs, aus ihrer natürlichen Gleichheit rei&#x017F;st,<lb/>
und &#x017F;ie, durch die trügeri&#x017F;che Bildung und Form zum<lb/>
er&#x017F;tenmale der Zer&#x017F;töhrung unterwirft.</p><lb/>
      <p>Das einfach&#x017F;te Pflanzengewebe mu&#x017F;s für &#x017F;einen<lb/>
Raub an den noch einfachern Elementen, &#x017F;chon durch<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Auf¬<lb/></fw>
</p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0048] Denn ſo wie die Liebe die höchſte Vollendung unſres empfindenden Weſens iſt, ſo iſt die Hervor¬ bringung des Schönen die höchſte Vollendung unſrer thätigen Kraft — und die höchſte Liebe muſs wie¬ der in Hervorbringung, in Zeugung, wo nicht in die ſüsſeſte Auflöſung des liebenden Weſens hinüber gehn. — Nun ſind freilich die Begriffe von Aufopferung, Liebe und Sehnſucht ſelber viel zu ſüſs, als daſs wir ſie wieder entbehren könnten, ſobald wir ſie einmal haben, oder ihr Daſeyn nicht wünſchen ſollten, ſo¬ bald wir ſie einmal kennen. — Es ſcheint nichts Höheres zu geben, dem die Aufopferung ſelbſt wieder müſste aufgeopfert wer¬ den. — Und das Schöne hinwegwünſchen, weil unter ihm die Stärke erliegt, hiesſe auch, die Stärke hinweg wünſchen, weil unter ihm die Schwäche er¬ liegt; den Menſchen, weil er mit zerſtöhrender Hand die freie Thierwelt ſich unterjocht; die ganze lebende Welt, weil ſie unaufhörlich die unſchuldige Pflanzen¬ welt zerſtöhrt; und zuletzt auch die lebloſe Pflanzen¬ welt, weil ſie die unzerſtöhrbaren Theile des organi¬ ſirten Stoffs, aus ihrer natürlichen Gleichheit reiſst, und ſie, durch die trügeriſche Bildung und Form zum erſtenmale der Zerſtöhrung unterwirft. Das einfachſte Pflanzengewebe muſs für ſeinen Raub an den noch einfachern Elementen, ſchon durch Auf¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_nachahmung_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_nachahmung_1788/48
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig, 1788, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_nachahmung_1788/48>, abgerufen am 30.04.2024.