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Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Professor als einen weltverständigen und lebensklugen Mann schätzen gelernt hatte. Besonders aber empfahl sich dieser Hausgenoß dem Alten durch die gute Laune, mit welcher er allen Ansprüchen desselben auf seinen Rath und Bescheid zu genügen wußte. Denn der Marquis war bei seiner unbeholfenen Aengstlichkeit, die er indessen selbst für Lebensweisheit anschlug, in beständiger Verlegenheit und hielt es sogar für seine Pflicht, sich in jeder Stadt bei seinem Banquier zu erkundigen, wie viel Trinkgeld man in den dortigen Gasthöfen einem Kellner und Hausknecht zu geben pflege. Er that dieses nicht etwa aus Geiz, sondern aus einer seltsamen Grille, auch in den unbedeutendsten Verhältnissen seine Schuldigkeit genau zu kennen; denn fast immer überschritt seine Freigebigkeit das Maß, welches er als das herkömmliche ausgemittelt hatte. Es läßt sich aber errathen, daß selbst seine näheren Bekannten sich durch dergleichen Erkundigungen zuweilen belästigt fühlten und ihn kurz abfertigten. Der Professor that das nie, sondern war auf schwere und leichte Fragen sogleich mit einer entschiedenen Antwort fertig, und dadurch hatte er sich das Vertrauen des Alten in einem so hohen Grade erworben, daß er sich selbst scherzhafter Weise das delphische Orakel desselben nennen durfte.

Auch heute war der Professor so glücklich, den unausgesprochenen Wünschen des Marquis mit seinen

Professor als einen weltverständigen und lebensklugen Mann schätzen gelernt hatte. Besonders aber empfahl sich dieser Hausgenoß dem Alten durch die gute Laune, mit welcher er allen Ansprüchen desselben auf seinen Rath und Bescheid zu genügen wußte. Denn der Marquis war bei seiner unbeholfenen Aengstlichkeit, die er indessen selbst für Lebensweisheit anschlug, in beständiger Verlegenheit und hielt es sogar für seine Pflicht, sich in jeder Stadt bei seinem Banquier zu erkundigen, wie viel Trinkgeld man in den dortigen Gasthöfen einem Kellner und Hausknecht zu geben pflege. Er that dieses nicht etwa aus Geiz, sondern aus einer seltsamen Grille, auch in den unbedeutendsten Verhältnissen seine Schuldigkeit genau zu kennen; denn fast immer überschritt seine Freigebigkeit das Maß, welches er als das herkömmliche ausgemittelt hatte. Es läßt sich aber errathen, daß selbst seine näheren Bekannten sich durch dergleichen Erkundigungen zuweilen belästigt fühlten und ihn kurz abfertigten. Der Professor that das nie, sondern war auf schwere und leichte Fragen sogleich mit einer entschiedenen Antwort fertig, und dadurch hatte er sich das Vertrauen des Alten in einem so hohen Grade erworben, daß er sich selbst scherzhafter Weise das delphische Orakel desselben nennen durfte.

Auch heute war der Professor so glücklich, den unausgesprochenen Wünschen des Marquis mit seinen

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[0077] Professor als einen weltverständigen und lebensklugen Mann schätzen gelernt hatte. Besonders aber empfahl sich dieser Hausgenoß dem Alten durch die gute Laune, mit welcher er allen Ansprüchen desselben auf seinen Rath und Bescheid zu genügen wußte. Denn der Marquis war bei seiner unbeholfenen Aengstlichkeit, die er indessen selbst für Lebensweisheit anschlug, in beständiger Verlegenheit und hielt es sogar für seine Pflicht, sich in jeder Stadt bei seinem Banquier zu erkundigen, wie viel Trinkgeld man in den dortigen Gasthöfen einem Kellner und Hausknecht zu geben pflege. Er that dieses nicht etwa aus Geiz, sondern aus einer seltsamen Grille, auch in den unbedeutendsten Verhältnissen seine Schuldigkeit genau zu kennen; denn fast immer überschritt seine Freigebigkeit das Maß, welches er als das herkömmliche ausgemittelt hatte. Es läßt sich aber errathen, daß selbst seine näheren Bekannten sich durch dergleichen Erkundigungen zuweilen belästigt fühlten und ihn kurz abfertigten. Der Professor that das nie, sondern war auf schwere und leichte Fragen sogleich mit einer entschiedenen Antwort fertig, und dadurch hatte er sich das Vertrauen des Alten in einem so hohen Grade erworben, daß er sich selbst scherzhafter Weise das delphische Orakel desselben nennen durfte. Auch heute war der Professor so glücklich, den unausgesprochenen Wünschen des Marquis mit seinen

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T15:21:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T15:21:38Z)

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Zitationshilfe: Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_debora_1910/77>, abgerufen am 06.05.2024.