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Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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dem Tische vor seinem Bette liegen und fing an, darin zu blättern. Zuerst las er die Stanzen über Rom in den Schlußgesängen des Childe Harold, welche ein Engländer von seiner Bekanntschaft ihm als letzte Neuigkeit aus London geliehen hatte; aber sie sprachen ihn nicht so tief an, wie er es jetzt verlangte. Hierauf griff er nach seiner Bibel, aber auch sie vermochte nicht, ihn in eine andächtige Stimmung zu versetzen, und seine Aufmerksamkeit für das, was er las, wurde durch den immer höher schwellenden Strom dessen, was er selbst zwischen den Zeilen dachte und empfand, allmählich ganz verschlungen.

So gab er es denn auf, zu lesen, und überließ sich der freien Unterhaltung mit seinem eigenen Kopfe und Herzen. Wie es zu geschehen pflegt, daß wir einen Menschen, der uns im Leben gleichgültig oder gar unangenehm berührte, erst nach seinem Tode höher zu schätzen anfangen, besonders wenn er irgend ein Unrecht, das wir gegen ihn verschuldet haben, mit sich aus der Welt genommen hat, so erging es unserm jungen Freunde mit dem Marquis. Er hielt sich die guten und schönen Eigenschaften desselben nach der Reihe vor und setzte daraus ein Charakterbild zusammen, welches seine ganze Liebe und Verehrung in Anspruch nahm. Dann verweilte er mit reuiger Beschämung auf denjenigen Zügen dieses Bildes, welche sein näheres Verhältniß zu dem alten Herrn ihm besonders oft zugekehrt hatte. Auch du hast ihn ver-

dem Tische vor seinem Bette liegen und fing an, darin zu blättern. Zuerst las er die Stanzen über Rom in den Schlußgesängen des Childe Harold, welche ein Engländer von seiner Bekanntschaft ihm als letzte Neuigkeit aus London geliehen hatte; aber sie sprachen ihn nicht so tief an, wie er es jetzt verlangte. Hierauf griff er nach seiner Bibel, aber auch sie vermochte nicht, ihn in eine andächtige Stimmung zu versetzen, und seine Aufmerksamkeit für das, was er las, wurde durch den immer höher schwellenden Strom dessen, was er selbst zwischen den Zeilen dachte und empfand, allmählich ganz verschlungen.

So gab er es denn auf, zu lesen, und überließ sich der freien Unterhaltung mit seinem eigenen Kopfe und Herzen. Wie es zu geschehen pflegt, daß wir einen Menschen, der uns im Leben gleichgültig oder gar unangenehm berührte, erst nach seinem Tode höher zu schätzen anfangen, besonders wenn er irgend ein Unrecht, das wir gegen ihn verschuldet haben, mit sich aus der Welt genommen hat, so erging es unserm jungen Freunde mit dem Marquis. Er hielt sich die guten und schönen Eigenschaften desselben nach der Reihe vor und setzte daraus ein Charakterbild zusammen, welches seine ganze Liebe und Verehrung in Anspruch nahm. Dann verweilte er mit reuiger Beschämung auf denjenigen Zügen dieses Bildes, welche sein näheres Verhältniß zu dem alten Herrn ihm besonders oft zugekehrt hatte. Auch du hast ihn ver-

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[0095] dem Tische vor seinem Bette liegen und fing an, darin zu blättern. Zuerst las er die Stanzen über Rom in den Schlußgesängen des Childe Harold, welche ein Engländer von seiner Bekanntschaft ihm als letzte Neuigkeit aus London geliehen hatte; aber sie sprachen ihn nicht so tief an, wie er es jetzt verlangte. Hierauf griff er nach seiner Bibel, aber auch sie vermochte nicht, ihn in eine andächtige Stimmung zu versetzen, und seine Aufmerksamkeit für das, was er las, wurde durch den immer höher schwellenden Strom dessen, was er selbst zwischen den Zeilen dachte und empfand, allmählich ganz verschlungen. So gab er es denn auf, zu lesen, und überließ sich der freien Unterhaltung mit seinem eigenen Kopfe und Herzen. Wie es zu geschehen pflegt, daß wir einen Menschen, der uns im Leben gleichgültig oder gar unangenehm berührte, erst nach seinem Tode höher zu schätzen anfangen, besonders wenn er irgend ein Unrecht, das wir gegen ihn verschuldet haben, mit sich aus der Welt genommen hat, so erging es unserm jungen Freunde mit dem Marquis. Er hielt sich die guten und schönen Eigenschaften desselben nach der Reihe vor und setzte daraus ein Charakterbild zusammen, welches seine ganze Liebe und Verehrung in Anspruch nahm. Dann verweilte er mit reuiger Beschämung auf denjenigen Zügen dieses Bildes, welche sein näheres Verhältniß zu dem alten Herrn ihm besonders oft zugekehrt hatte. Auch du hast ihn ver-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T15:21:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T15:21:38Z)

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Zitationshilfe: Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_debora_1910/95>, abgerufen am 06.05.2024.