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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

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Einflusses, woher irgend, vereinbaren. Denn durch
einen solchen wäre die stetige Folge der Ausbildung
verrückt und aufgehoben worden. Wie consequent bil-
dete man doch die lange Fläche des Hauptbalkens in
Stein nach, legte darüber die Querbalken mit dem
Dorischen Dreischlitz, deren Zwischenöffnungen
(metopas) man allmälig mit Marmorplatten zudeckte,
und ließ das Gesims wie in der Zimmerkunst mächtig
hervorspringen. Und nachdem man vielleicht das Dach
eine Zeitlang nach allen vier Seiten hatte schräg abfal-
len lassen: setzte man in Korinth zuerst ein Giebelfeld
nach vorn und hinten, und schmückte es mit Werken
alter Thonbildnerei 1. So entstand der Dorische Tem-
pel, dessen ältere Musterbilder uns in den Dorischen
Städten Korinth, Poseidonia, Aegina und den Dori-
schen Kolonieen Siciliens aufbewahrt sind.

Doch darf man keinesweges die Meinung eines der
ersten Forscher in diesem Fache so verstehn, als wenn
der künstlerische Charakter dieser Architektur sich
aus dem Holzbau ableiten und befriedigend entwickeln
lasse. Das ist eben das Wesen dieser Kunst, daß sie
in der Gestalt eines Werks für das Bedürfniß, des Hau-
ses, ein geistiges Sein ausprägt 2. Es ist der Dori-
sche Charakter, der die Dorische Baukunst schuf. Im
Dorischen Tempel ist die zu tragende Last absichtlich
verstärkt, und dem Gebälk eine ausnehmende Höhe ge-
geben; aber im Verhältniß sind auch die Säulen un-
gemein stark und nahe neben einander gestellt: woraus
uns dasselbe Gefühl entsteht, wie wenn wir einen au-
genfällig starken Mann eine gewaltige Last tragen sehn,
und Erstaunen über die Schwere sich mit der Freude

1 Böckh Expl. ad Pind. O. 13. p. 213 sq.
2 Der
Tempel ist nach altem Gedanken auch ein agalma, ein zur Ver-
herrlichung der Gottheit im Tempelraum hingestelltes Schaubild.

Einfluſſes, woher irgend, vereinbaren. Denn durch
einen ſolchen waͤre die ſtetige Folge der Ausbildung
verruͤckt und aufgehoben worden. Wie conſequent bil-
dete man doch die lange Flaͤche des Hauptbalkens in
Stein nach, legte daruͤber die Querbalken mit dem
Doriſchen Dreiſchlitz, deren Zwiſchenoͤffnungen
(μετόπας) man allmaͤlig mit Marmorplatten zudeckte,
und ließ das Geſims wie in der Zimmerkunſt maͤchtig
hervorſpringen. Und nachdem man vielleicht das Dach
eine Zeitlang nach allen vier Seiten hatte ſchraͤg abfal-
len laſſen: ſetzte man in Korinth zuerſt ein Giebelfeld
nach vorn und hinten, und ſchmuͤckte es mit Werken
alter Thonbildnerei 1. So entſtand der Doriſche Tem-
pel, deſſen aͤltere Muſterbilder uns in den Doriſchen
Staͤdten Korinth, Poſeidonia, Aegina und den Dori-
ſchen Kolonieen Siciliens aufbewahrt ſind.

Doch darf man keinesweges die Meinung eines der
erſten Forſcher in dieſem Fache ſo verſtehn, als wenn
der kuͤnſtleriſche Charakter dieſer Architektur ſich
aus dem Holzbau ableiten und befriedigend entwickeln
laſſe. Das iſt eben das Weſen dieſer Kunſt, daß ſie
in der Geſtalt eines Werks fuͤr das Beduͤrfniß, des Hau-
ſes, ein geiſtiges Sein auspraͤgt 2. Es iſt der Dori-
ſche Charakter, der die Doriſche Baukunſt ſchuf. Im
Doriſchen Tempel iſt die zu tragende Laſt abſichtlich
verſtaͤrkt, und dem Gebaͤlk eine ausnehmende Hoͤhe ge-
geben; aber im Verhaͤltniß ſind auch die Saͤulen un-
gemein ſtark und nahe neben einander geſtellt: woraus
uns daſſelbe Gefuͤhl entſteht, wie wenn wir einen au-
genfaͤllig ſtarken Mann eine gewaltige Laſt tragen ſehn,
und Erſtaunen uͤber die Schwere ſich mit der Freude

1 Boͤckh Expl. ad Pind. O. 13. p. 213 sq.
2 Der
Tempel iſt nach altem Gedanken auch ein ἄγαλμα, ein zur Ver-
herrlichung der Gottheit im Tempelraum hingeſtelltes Schaubild.
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[258/0264] Einfluſſes, woher irgend, vereinbaren. Denn durch einen ſolchen waͤre die ſtetige Folge der Ausbildung verruͤckt und aufgehoben worden. Wie conſequent bil- dete man doch die lange Flaͤche des Hauptbalkens in Stein nach, legte daruͤber die Querbalken mit dem Doriſchen Dreiſchlitz, deren Zwiſchenoͤffnungen (μετόπας) man allmaͤlig mit Marmorplatten zudeckte, und ließ das Geſims wie in der Zimmerkunſt maͤchtig hervorſpringen. Und nachdem man vielleicht das Dach eine Zeitlang nach allen vier Seiten hatte ſchraͤg abfal- len laſſen: ſetzte man in Korinth zuerſt ein Giebelfeld nach vorn und hinten, und ſchmuͤckte es mit Werken alter Thonbildnerei 1. So entſtand der Doriſche Tem- pel, deſſen aͤltere Muſterbilder uns in den Doriſchen Staͤdten Korinth, Poſeidonia, Aegina und den Dori- ſchen Kolonieen Siciliens aufbewahrt ſind. Doch darf man keinesweges die Meinung eines der erſten Forſcher in dieſem Fache ſo verſtehn, als wenn der kuͤnſtleriſche Charakter dieſer Architektur ſich aus dem Holzbau ableiten und befriedigend entwickeln laſſe. Das iſt eben das Weſen dieſer Kunſt, daß ſie in der Geſtalt eines Werks fuͤr das Beduͤrfniß, des Hau- ſes, ein geiſtiges Sein auspraͤgt 2. Es iſt der Dori- ſche Charakter, der die Doriſche Baukunſt ſchuf. Im Doriſchen Tempel iſt die zu tragende Laſt abſichtlich verſtaͤrkt, und dem Gebaͤlk eine ausnehmende Hoͤhe ge- geben; aber im Verhaͤltniß ſind auch die Saͤulen un- gemein ſtark und nahe neben einander geſtellt: woraus uns daſſelbe Gefuͤhl entſteht, wie wenn wir einen au- genfaͤllig ſtarken Mann eine gewaltige Laſt tragen ſehn, und Erſtaunen uͤber die Schwere ſich mit der Freude 1 Boͤckh Expl. ad Pind. O. 13. p. 213 sq. 2 Der Tempel iſt nach altem Gedanken auch ein ἄγαλμα, ein zur Ver- herrlichung der Gottheit im Tempelraum hingeſtelltes Schaubild.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/264>, abgerufen am 30.04.2024.