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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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Griechen. Fünfte Periode.

189. In der ersten Kaiserzeit bildet die Römische1
Architektur an öffentlichen Gebäuden den prächtigen und
großen Charakter aus, welcher den Verhältnissen und
Ideen eines weltherrschenden Volks sicher der ange-
messenste war. Die Pfeiler und Bogen treten an den2
ansehnlichsten Gebäuden als eine Hauptform neben die
Säulen und das Säulengebälk, indem dabei das Grund-
gesetz beobachtet wird, daß beide Formen, jede nur sich
fortsetzend, nebeneinander hergehen, so daß die Bogen
mehr die innre Construction des Gebäudes, die Säulen
die äußere Fronte bilden, und, wo kein Dach auf ihrem
Gebälke liegt, als Träger von Bildsäulen ihren Zweck
erfüllen. Indeß finden sich doch strengere Schüler der3
Griechischen Meister, wie Vitruv, schon jetzt gedrungen,
über Vermischung heterogener Formen zu klagen: welcher4
Vorwurf in der That auch das, erst nach Vitruv auf-
gekommene, sogenannte Römische Capitäl treffen muß.
Die Reinheit der Baukunst mußte auch damals
schon an den Gebäuden des Griechischen Mutterlands und
Joniens gelernt werden.

3. S. Vitruv i, 2. iv, 2. über die Vermischung der Joni-
schen denticuli und Dorischen triglyphi. Sie findet z. B. am
Theater des Marcellus statt. Mehr klagt Vitruv über die aller
Architektonik spottende Skenographie, §. 209.

4. Das Römische oder composite Capitäl setzt das
Jonische Eckcapitäl vollständig über die untern 2/3 des Korinthischen,
in das jenes doch schon auf die angemessenste Weise aufgenommen
war; es verliert dadurch alle Einheit des Charakters. Die Säulen
erhalten 9 bis 91/2 Diameter. Zuerst am Bogen des Titus.

190. Augustus umfaßte alle Zweige einer Römischen1
Bauordnung mit wahrhaft fürstlichem Sinne; er fand
das Marsfeld noch größtentheils frei, und machte es,
nebst Agrippa und Andern, zu einer Prachtstadt, gegen
welche die übrige Stadt fast als Nebensache erschien.
Die nachfolgenden Kaiser drängen sich mit ihren Bauen2

Griechen. Fuͤnfte Periode.

189. In der erſten Kaiſerzeit bildet die Roͤmiſche1
Architektur an oͤffentlichen Gebaͤuden den praͤchtigen und
großen Charakter aus, welcher den Verhaͤltniſſen und
Ideen eines weltherrſchenden Volks ſicher der ange-
meſſenſte war. Die Pfeiler und Bogen treten an den2
anſehnlichſten Gebaͤuden als eine Hauptform neben die
Saͤulen und das Saͤulengebaͤlk, indem dabei das Grund-
geſetz beobachtet wird, daß beide Formen, jede nur ſich
fortſetzend, nebeneinander hergehen, ſo daß die Bogen
mehr die innre Conſtruction des Gebaͤudes, die Saͤulen
die aͤußere Fronte bilden, und, wo kein Dach auf ihrem
Gebaͤlke liegt, als Traͤger von Bildſaͤulen ihren Zweck
erfuͤllen. Indeß finden ſich doch ſtrengere Schuͤler der3
Griechiſchen Meiſter, wie Vitruv, ſchon jetzt gedrungen,
uͤber Vermiſchung heterogener Formen zu klagen: welcher4
Vorwurf in der That auch das, erſt nach Vitruv auf-
gekommene, ſogenannte Roͤmiſche Capitaͤl treffen muß.
Die Reinheit der Baukunſt mußte auch damals
ſchon an den Gebaͤuden des Griechiſchen Mutterlands und
Joniens gelernt werden.

3. S. Vitruv i, 2. iv, 2. über die Vermiſchung der Joni-
ſchen denticuli und Doriſchen triglyphi. Sie findet z. B. am
Theater des Marcellus ſtatt. Mehr klagt Vitruv über die aller
Architektonik ſpottende Skenographie, §. 209.

4. Das Römiſche oder compoſite Capitäl ſetzt das
Joniſche Eckcapitäl vollſtändig über die untern ⅔ des Korinthiſchen,
in das jenes doch ſchon auf die angemeſſenſte Weiſe aufgenommen
war; es verliert dadurch alle Einheit des Charakters. Die Säulen
erhalten 9 bis 9½ Diameter. Zuerſt am Bogen des Titus.

190. Auguſtus umfaßte alle Zweige einer Roͤmiſchen1
Bauordnung mit wahrhaft fuͤrſtlichem Sinne; er fand
das Marsfeld noch groͤßtentheils frei, und machte es,
nebſt Agrippa und Andern, zu einer Prachtſtadt, gegen
welche die uͤbrige Stadt faſt als Nebenſache erſchien.
Die nachfolgenden Kaiſer draͤngen ſich mit ihren Bauen2

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[175/0197] Griechen. Fuͤnfte Periode. 189. In der erſten Kaiſerzeit bildet die Roͤmiſche Architektur an oͤffentlichen Gebaͤuden den praͤchtigen und großen Charakter aus, welcher den Verhaͤltniſſen und Ideen eines weltherrſchenden Volks ſicher der ange- meſſenſte war. Die Pfeiler und Bogen treten an den anſehnlichſten Gebaͤuden als eine Hauptform neben die Saͤulen und das Saͤulengebaͤlk, indem dabei das Grund- geſetz beobachtet wird, daß beide Formen, jede nur ſich fortſetzend, nebeneinander hergehen, ſo daß die Bogen mehr die innre Conſtruction des Gebaͤudes, die Saͤulen die aͤußere Fronte bilden, und, wo kein Dach auf ihrem Gebaͤlke liegt, als Traͤger von Bildſaͤulen ihren Zweck erfuͤllen. Indeß finden ſich doch ſtrengere Schuͤler der Griechiſchen Meiſter, wie Vitruv, ſchon jetzt gedrungen, uͤber Vermiſchung heterogener Formen zu klagen: welcher Vorwurf in der That auch das, erſt nach Vitruv auf- gekommene, ſogenannte Roͤmiſche Capitaͤl treffen muß. Die Reinheit der Baukunſt mußte auch damals ſchon an den Gebaͤuden des Griechiſchen Mutterlands und Joniens gelernt werden. 1 2 3 4 3. S. Vitruv i, 2. iv, 2. über die Vermiſchung der Joni- ſchen denticuli und Doriſchen triglyphi. Sie findet z. B. am Theater des Marcellus ſtatt. Mehr klagt Vitruv über die aller Architektonik ſpottende Skenographie, §. 209. 4. Das Römiſche oder compoſite Capitäl ſetzt das Joniſche Eckcapitäl vollſtändig über die untern ⅔ des Korinthiſchen, in das jenes doch ſchon auf die angemeſſenſte Weiſe aufgenommen war; es verliert dadurch alle Einheit des Charakters. Die Säulen erhalten 9 bis 9½ Diameter. Zuerſt am Bogen des Titus. 190. Auguſtus umfaßte alle Zweige einer Roͤmiſchen Bauordnung mit wahrhaft fuͤrſtlichem Sinne; er fand das Marsfeld noch groͤßtentheils frei, und machte es, nebſt Agrippa und Andern, zu einer Prachtſtadt, gegen welche die uͤbrige Stadt faſt als Nebenſache erſchien. Die nachfolgenden Kaiſer draͤngen ſich mit ihren Bauen 1 2

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/197>, abgerufen am 27.04.2024.