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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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einzelnen Streite, ward niedergeschrieben, und heißt
Gesetz --: lebendiges Gesetz, in so fern
sich der Leser ganz in die Lage des Richters,
das heißt in die Gegenwart der beiden streiten-
den Partheien, versetzt; todtes Gesetz, in so
fern er den Buchstaben des Urtheils treu ab-
schreibt, ohne auf die Geschichte des Urtheils
zu achten; in so fern er das Resultat anmerkt,
ohne zu begreifen, woraus es resultire; in so
fern er zwar das Was? zu sagen weiß, aber
jenes Wachsthum, jene Entwickelung, welche dem
Menschen durch die Frage: Wie? klar wird,
nicht achtet.

Alle Gesetzgebungen der Erde sind aus einem
solchen unendlichen Streiten und Sich-Vertra-
gen hervorgegangen; die Gesetze selbst haben oft
wieder unter einander gestritten, und es hat ein
Vertrag zwischen ihnen, ein höheres Gesetz, er-
richtet werden müssen. So giebt es Gesetze
z. B. die über den Adel, welche gar nicht mehr
aus dem Streite von Individuen, sondern aus
dem Streite ganzer Corporationen hervorgegangen
sind, und billig Gesetze der Gesetze ge-
nannt werden können. Gewiß aber ist es, daß
ein Gesetz nicht anders zu denken ist und nichts
bedeutet, als vis-a-vis oder im Gegensatze
des Streites. Darum ist das Wort Vertrag

einzelnen Streite, ward niedergeſchrieben, und heißt
Geſetz —: lebendiges Geſetz, in ſo fern
ſich der Leſer ganz in die Lage des Richters,
das heißt in die Gegenwart der beiden ſtreiten-
den Partheien, verſetzt; todtes Geſetz, in ſo
fern er den Buchſtaben des Urtheils treu ab-
ſchreibt, ohne auf die Geſchichte des Urtheils
zu achten; in ſo fern er das Reſultat anmerkt,
ohne zu begreifen, woraus es reſultire; in ſo
fern er zwar das Was? zu ſagen weiß, aber
jenes Wachsthum, jene Entwickelung, welche dem
Menſchen durch die Frage: Wie? klar wird,
nicht achtet.

Alle Geſetzgebungen der Erde ſind aus einem
ſolchen unendlichen Streiten und Sich-Vertra-
gen hervorgegangen; die Geſetze ſelbſt haben oft
wieder unter einander geſtritten, und es hat ein
Vertrag zwiſchen ihnen, ein hoͤheres Geſetz, er-
richtet werden muͤſſen. So giebt es Geſetze
z. B. die uͤber den Adel, welche gar nicht mehr
aus dem Streite von Individuen, ſondern aus
dem Streite ganzer Corporationen hervorgegangen
ſind, und billig Geſetze der Geſetze ge-
nannt werden koͤnnen. Gewiß aber iſt es, daß
ein Geſetz nicht anders zu denken iſt und nichts
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des Streites. Darum iſt das Wort Vertrag

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[184/0218] einzelnen Streite, ward niedergeſchrieben, und heißt Geſetz —: lebendiges Geſetz, in ſo fern ſich der Leſer ganz in die Lage des Richters, das heißt in die Gegenwart der beiden ſtreiten- den Partheien, verſetzt; todtes Geſetz, in ſo fern er den Buchſtaben des Urtheils treu ab- ſchreibt, ohne auf die Geſchichte des Urtheils zu achten; in ſo fern er das Reſultat anmerkt, ohne zu begreifen, woraus es reſultire; in ſo fern er zwar das Was? zu ſagen weiß, aber jenes Wachsthum, jene Entwickelung, welche dem Menſchen durch die Frage: Wie? klar wird, nicht achtet. Alle Geſetzgebungen der Erde ſind aus einem ſolchen unendlichen Streiten und Sich-Vertra- gen hervorgegangen; die Geſetze ſelbſt haben oft wieder unter einander geſtritten, und es hat ein Vertrag zwiſchen ihnen, ein hoͤheres Geſetz, er- richtet werden muͤſſen. So giebt es Geſetze z. B. die uͤber den Adel, welche gar nicht mehr aus dem Streite von Individuen, ſondern aus dem Streite ganzer Corporationen hervorgegangen ſind, und billig Geſetze der Geſetze ge- nannt werden koͤnnen. Gewiß aber iſt es, daß ein Geſetz nicht anders zu denken iſt und nichts bedeutet, als vis-à-vis oder im Gegenſatze des Streites. Darum iſt das Wort Vertrag

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/218>, abgerufen am 30.04.2024.