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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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den Verkehr der Personen mit Sachen nur dann
erst eines Blickes gewürdigt, wenn zweite Per-
sonen dabei concurrirten; man hielt die wirkli-
chen lebendigen Menschen allein für rechtsfähig,
hatte also die Summe dieser Menschen, ihrer
Rechte und ihrer Bedürfnisse im Auge, wenn
man vom Rechte sprach. Da es aber nicht die
Summe der gegenwärtigen Nießbraucher, son-
dern die Totalität aller freien Individuen aller
Jahrhunderte ist, welche den Staat bildet, so
leuchtet ein, daß das gesammte Erbtheil der
vorangegangenen Zeiten, welches nur Dem todt
scheint, der sich die großen Erblasser nicht ver-
gegenwärtigen kann, vor den Augen des Staats-
mannes genau eben so rechtsfähig seyn muß,
wie die gegenwärtige, lebendige Generation; denn
der Staatsmann oder der Richter soll ja nicht
etwa die Summe der Nießbraucher als bloßer
Wortführer einer einzelnen Generation vertreten,
sondern den Staat auch in der Dauer umfassen,
d. h. wahrer Repräsentant der Totalität des
Staates seyn. Nicht bloß Freiheit und Gegen-
freiheit der jetzt lebenden Menschen geben in
ihrem Streite das Gesetz, sondern eben so wohl
die Freiheit des Gegenwärtigen, und die in seinen
Werken noch fortlebende Gegenfreiheit des Ab-
wesenden, des Verstorbenen.

den Verkehr der Perſonen mit Sachen nur dann
erſt eines Blickes gewuͤrdigt, wenn zweite Per-
ſonen dabei concurrirten; man hielt die wirkli-
chen lebendigen Menſchen allein fuͤr rechtsfaͤhig,
hatte alſo die Summe dieſer Menſchen, ihrer
Rechte und ihrer Beduͤrfniſſe im Auge, wenn
man vom Rechte ſprach. Da es aber nicht die
Summe der gegenwaͤrtigen Nießbraucher, ſon-
dern die Totalitaͤt aller freien Individuen aller
Jahrhunderte iſt, welche den Staat bildet, ſo
leuchtet ein, daß das geſammte Erbtheil der
vorangegangenen Zeiten, welches nur Dem todt
ſcheint, der ſich die großen Erblaſſer nicht ver-
gegenwaͤrtigen kann, vor den Augen des Staats-
mannes genau eben ſo rechtsfaͤhig ſeyn muß,
wie die gegenwaͤrtige, lebendige Generation; denn
der Staatsmann oder der Richter ſoll ja nicht
etwa die Summe der Nießbraucher als bloßer
Wortfuͤhrer einer einzelnen Generation vertreten,
ſondern den Staat auch in der Dauer umfaſſen,
d. h. wahrer Repraͤſentant der Totalitaͤt des
Staates ſeyn. Nicht bloß Freiheit und Gegen-
freiheit der jetzt lebenden Menſchen geben in
ihrem Streite das Geſetz, ſondern eben ſo wohl
die Freiheit des Gegenwaͤrtigen, und die in ſeinen
Werken noch fortlebende Gegenfreiheit des Ab-
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[231/0265] den Verkehr der Perſonen mit Sachen nur dann erſt eines Blickes gewuͤrdigt, wenn zweite Per- ſonen dabei concurrirten; man hielt die wirkli- chen lebendigen Menſchen allein fuͤr rechtsfaͤhig, hatte alſo die Summe dieſer Menſchen, ihrer Rechte und ihrer Beduͤrfniſſe im Auge, wenn man vom Rechte ſprach. Da es aber nicht die Summe der gegenwaͤrtigen Nießbraucher, ſon- dern die Totalitaͤt aller freien Individuen aller Jahrhunderte iſt, welche den Staat bildet, ſo leuchtet ein, daß das geſammte Erbtheil der vorangegangenen Zeiten, welches nur Dem todt ſcheint, der ſich die großen Erblaſſer nicht ver- gegenwaͤrtigen kann, vor den Augen des Staats- mannes genau eben ſo rechtsfaͤhig ſeyn muß, wie die gegenwaͤrtige, lebendige Generation; denn der Staatsmann oder der Richter ſoll ja nicht etwa die Summe der Nießbraucher als bloßer Wortfuͤhrer einer einzelnen Generation vertreten, ſondern den Staat auch in der Dauer umfaſſen, d. h. wahrer Repraͤſentant der Totalitaͤt des Staates ſeyn. Nicht bloß Freiheit und Gegen- freiheit der jetzt lebenden Menſchen geben in ihrem Streite das Geſetz, ſondern eben ſo wohl die Freiheit des Gegenwaͤrtigen, und die in ſeinen Werken noch fortlebende Gegenfreiheit des Ab- weſenden, des Verſtorbenen.

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/265>, abgerufen am 09.05.2024.