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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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wären zwei generisch verschiedene Dinge, und
das Recht sey älter als der Staat. --

Ihr Begriff "Staat" reicht ungefähr bis
dahin, wo der Ackerbau in die Welt kommt:
so lange behält der Staat nehmlich noch eine
verwandte Physiognomie mit ihrem vermeintlich
wissenschaftlichen, den sie in der Seele tragen;
und so ist ihnen auch das erste Blatt im Thu-
cydides erst eigentliche Geschichte. Jenseits des
Thucydides, jenseits des Ackerbaues -- ja, da
ist nun keine Geschichte, kein eigentlicher Staat
mehr, da müssen wir einen ganz andern Maß-
stab ansetzen, da müssen wir uns einen neuen
Begriff backen; und so kommt zu Stande, was
sie Naturrecht nennen. --

Indeß schwebt die Idee frei durch alle Zeiten
hin, und erkennt das Wesen der Menschheit,
des Rechtes und des Staates überall wieder,
versteht, und wird verstanden. Der Begriff ist
bloß für die weisen Kinder weiser Jahrhunderte;
die Idee haben Alle gemein: denn sie ist das
ewig Rechte. Das Wesen der Idee könnten
wir, falls wir der Organe, der Sprache, oder
der Töne, der Blicke jener Zeiten mächtig wären,
den ersten Kindern der Erde deutlich machen;
was wir Begriff nennen, würde ihnen ewig
unbegreiflich seyn. Wo bleibt nun also, wenn

waͤren zwei generiſch verſchiedene Dinge, und
das Recht ſey aͤlter als der Staat. —

Ihr Begriff „Staat” reicht ungefaͤhr bis
dahin, wo der Ackerbau in die Welt kommt:
ſo lange behaͤlt der Staat nehmlich noch eine
verwandte Phyſiognomie mit ihrem vermeintlich
wiſſenſchaftlichen, den ſie in der Seele tragen;
und ſo iſt ihnen auch das erſte Blatt im Thu-
cydides erſt eigentliche Geſchichte. Jenſeits des
Thucydides, jenſeits des Ackerbaues — ja, da
iſt nun keine Geſchichte, kein eigentlicher Staat
mehr, da muͤſſen wir einen ganz andern Maß-
ſtab anſetzen, da muͤſſen wir uns einen neuen
Begriff backen; und ſo kommt zu Stande, was
ſie Naturrecht nennen. —

Indeß ſchwebt die Idee frei durch alle Zeiten
hin, und erkennt das Weſen der Menſchheit,
des Rechtes und des Staates uͤberall wieder,
verſteht, und wird verſtanden. Der Begriff iſt
bloß fuͤr die weiſen Kinder weiſer Jahrhunderte;
die Idee haben Alle gemein: denn ſie iſt das
ewig Rechte. Das Weſen der Idee koͤnnten
wir, falls wir der Organe, der Sprache, oder
der Toͤne, der Blicke jener Zeiten maͤchtig waͤren,
den erſten Kindern der Erde deutlich machen;
was wir Begriff nennen, wuͤrde ihnen ewig
unbegreiflich ſeyn. Wo bleibt nun alſo, wenn

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[61/0095] waͤren zwei generiſch verſchiedene Dinge, und das Recht ſey aͤlter als der Staat. — Ihr Begriff „Staat” reicht ungefaͤhr bis dahin, wo der Ackerbau in die Welt kommt: ſo lange behaͤlt der Staat nehmlich noch eine verwandte Phyſiognomie mit ihrem vermeintlich wiſſenſchaftlichen, den ſie in der Seele tragen; und ſo iſt ihnen auch das erſte Blatt im Thu- cydides erſt eigentliche Geſchichte. Jenſeits des Thucydides, jenſeits des Ackerbaues — ja, da iſt nun keine Geſchichte, kein eigentlicher Staat mehr, da muͤſſen wir einen ganz andern Maß- ſtab anſetzen, da muͤſſen wir uns einen neuen Begriff backen; und ſo kommt zu Stande, was ſie Naturrecht nennen. — Indeß ſchwebt die Idee frei durch alle Zeiten hin, und erkennt das Weſen der Menſchheit, des Rechtes und des Staates uͤberall wieder, verſteht, und wird verſtanden. Der Begriff iſt bloß fuͤr die weiſen Kinder weiſer Jahrhunderte; die Idee haben Alle gemein: denn ſie iſt das ewig Rechte. Das Weſen der Idee koͤnnten wir, falls wir der Organe, der Sprache, oder der Toͤne, der Blicke jener Zeiten maͤchtig waͤren, den erſten Kindern der Erde deutlich machen; was wir Begriff nennen, wuͤrde ihnen ewig unbegreiflich ſeyn. Wo bleibt nun alſo, wenn

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/95>, abgerufen am 27.04.2024.