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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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hinter den Kulissen aber ist er ein anderer. Er ist
Meister in der Verstellungskunst und besitzt eine außer-
ordentliche, durch jahrhundertelange Gewöhnung künst-
lich anerzogene Selbstbeherrschung. Es ist unmöglich,
ihm vom Gesicht abzulesen, was er im tiefsten Herzen
sinnt. Auch in Worten verrät er sich nicht. Er ist
zurückhaltend, nicht mitteilsam, er ist verschlossen, nicht
offen. Ein japanischer Gelehrter bezeichnet als eine
nationale Tugend seiner Landsleute, daß sie offen und
geradeaus seien. Diese Behauptung ist nur ein Beweis
mehr für die alte Erfahrung, daß für einen Menschen
nichts schwerer ist, als sich selbst erkennen, oder, wie der
Japaner selbst in einem treffenden Sprichwort es aus-
drückt: todaimoto kurashii, am Fuße des Leuchtturms
ist es dunkel. Der Japaner ist nichts weniger als das.
Er ist in seiner Verfahrungsweise indirekt. Kaum irgend-
wo spielt die Zwischengängerei eine solche Rolle wie
hier, nicht bloß in Heiratsgeschichten, sondern in allen
möglichen Dingen. Seine Urteile sind nicht gerade-
heraus, sondern umschreibend, seine Fragen gehen nicht
direkt auf die Sache los, sondern hinten herum. Will
ein Student erfahren, ob sein deutscher Professor der
Geschichte im nächsten Jahr nach Ablauf seines Kontrakts
nach Deutschland zurückkehrt, so fragt er nicht geradezu:
"Kehren Sie nächstes Jahr in Ihre Heimat zurück?"
sondern vielmehr: "Kommt übers Jahr noch ein deutscher
Geschichtsprofessor?" Je nach der Antwort konstruiert
er sich's dann selbst, ob der Professor bald geht oder
noch zu bleiben gedenkt. Ich war einmal in der Lage,
einen Lehrer für unsere Freischule engagieren zu müssen.
Ich übertrug die Regelung der Sache einem meiner
Studenten, nachdem ich ihn vorher instruiert hatte.
Binnen kurzer Zeit kam er mit der Nachricht, daß die

hinter den Kuliſſen aber iſt er ein anderer. Er iſt
Meiſter in der Verſtellungskunſt und beſitzt eine außer-
ordentliche, durch jahrhundertelange Gewöhnung künſt-
lich anerzogene Selbſtbeherrſchung. Es iſt unmöglich,
ihm vom Geſicht abzuleſen, was er im tiefſten Herzen
ſinnt. Auch in Worten verrät er ſich nicht. Er iſt
zurückhaltend, nicht mitteilſam, er iſt verſchloſſen, nicht
offen. Ein japaniſcher Gelehrter bezeichnet als eine
nationale Tugend ſeiner Landsleute, daß ſie offen und
geradeaus ſeien. Dieſe Behauptung iſt nur ein Beweis
mehr für die alte Erfahrung, daß für einen Menſchen
nichts ſchwerer iſt, als ſich ſelbſt erkennen, oder, wie der
Japaner ſelbſt in einem treffenden Sprichwort es aus-
drückt: todaimoto kurashii, am Fuße des Leuchtturms
iſt es dunkel. Der Japaner iſt nichts weniger als das.
Er iſt in ſeiner Verfahrungsweiſe indirekt. Kaum irgend-
wo ſpielt die Zwiſchengängerei eine ſolche Rolle wie
hier, nicht bloß in Heiratsgeſchichten, ſondern in allen
möglichen Dingen. Seine Urteile ſind nicht gerade-
heraus, ſondern umſchreibend, ſeine Fragen gehen nicht
direkt auf die Sache los, ſondern hinten herum. Will
ein Student erfahren, ob ſein deutſcher Profeſſor der
Geſchichte im nächſten Jahr nach Ablauf ſeines Kontrakts
nach Deutſchland zurückkehrt, ſo fragt er nicht geradezu:
„Kehren Sie nächſtes Jahr in Ihre Heimat zurück?“
ſondern vielmehr: „Kommt übers Jahr noch ein deutſcher
Geſchichtsprofeſſor?“ Je nach der Antwort konſtruiert
er ſich’s dann ſelbſt, ob der Profeſſor bald geht oder
noch zu bleiben gedenkt. Ich war einmal in der Lage,
einen Lehrer für unſere Freiſchule engagieren zu müſſen.
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[98/0112] hinter den Kuliſſen aber iſt er ein anderer. Er iſt Meiſter in der Verſtellungskunſt und beſitzt eine außer- ordentliche, durch jahrhundertelange Gewöhnung künſt- lich anerzogene Selbſtbeherrſchung. Es iſt unmöglich, ihm vom Geſicht abzuleſen, was er im tiefſten Herzen ſinnt. Auch in Worten verrät er ſich nicht. Er iſt zurückhaltend, nicht mitteilſam, er iſt verſchloſſen, nicht offen. Ein japaniſcher Gelehrter bezeichnet als eine nationale Tugend ſeiner Landsleute, daß ſie offen und geradeaus ſeien. Dieſe Behauptung iſt nur ein Beweis mehr für die alte Erfahrung, daß für einen Menſchen nichts ſchwerer iſt, als ſich ſelbſt erkennen, oder, wie der Japaner ſelbſt in einem treffenden Sprichwort es aus- drückt: todaimoto kurashii, am Fuße des Leuchtturms iſt es dunkel. Der Japaner iſt nichts weniger als das. Er iſt in ſeiner Verfahrungsweiſe indirekt. Kaum irgend- wo ſpielt die Zwiſchengängerei eine ſolche Rolle wie hier, nicht bloß in Heiratsgeſchichten, ſondern in allen möglichen Dingen. Seine Urteile ſind nicht gerade- heraus, ſondern umſchreibend, ſeine Fragen gehen nicht direkt auf die Sache los, ſondern hinten herum. Will ein Student erfahren, ob ſein deutſcher Profeſſor der Geſchichte im nächſten Jahr nach Ablauf ſeines Kontrakts nach Deutſchland zurückkehrt, ſo fragt er nicht geradezu: „Kehren Sie nächſtes Jahr in Ihre Heimat zurück?“ ſondern vielmehr: „Kommt übers Jahr noch ein deutſcher Geſchichtsprofeſſor?“ Je nach der Antwort konſtruiert er ſich’s dann ſelbſt, ob der Profeſſor bald geht oder noch zu bleiben gedenkt. Ich war einmal in der Lage, einen Lehrer für unſere Freiſchule engagieren zu müſſen. Ich übertrug die Regelung der Sache einem meiner Studenten, nachdem ich ihn vorher inſtruiert hatte. Binnen kurzer Zeit kam er mit der Nachricht, daß die

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/112>, abgerufen am 27.04.2024.