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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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zehntelang ruhen sie und wiegen die Umwohner in
Sicherheit. Im Schoße der Berge aber arbeitet die
unheilbringende Kraft rastlos weiter, bis sie endlich,
wenn man es am wenigsten vermutet, zum verheerenden
Ausbruch kommt. Erdbeben sind sehr häufig. Im
Oktober 1891 fand in dem Centrum des Landes eins
statt, bei welchem 10 000 Menschenleben vernichtet und
über 100 000 Häuser in Schutt und Asche gelegt wurden.
Weitaus die meisten Erdbeben sind gänzlich harmlos,
aber sie rufen ein lästiges Gefühl der Unsicherheit her-
vor. Der Gedanke drängt sich gar zu leicht auf: Noch
ein paar Millimeter höher und auch um mein Haus
und mein Leben könnte es geschehen sein. Es giebt
wenig Europäer, die nicht allmählich nervös gegen
Erdbeben werden. Ich selbst machte mir jahrelang
blutwenig aus Erdbeben, bis zum Sommer des Jahres
1894. Damals schickte mich der Arzt, ein deutscher
Professor der Medizin an der Universität zu Tokyo,
wegen Krankheit auf das Land. Ich war allein in
einem Raum der Eisenbahn und lag lang ausgestreckt
auf dem Sitze. Plötzlich ein Ruck -- und ich lag am
Boden. Der Wagen schwankte bedenklich hin und her,
so daß ich nicht anders meinte, als daß es sich um
eine Entgleisung handele. Auf der nächsten Station
aber erfuhr ich, daß es ein Erdbeben gewesen sei. An
einer Stelle, die wir gerade passiert hatten, war der
Schienenstrang entzwei gerissen, in Tokyo und Yokohama
waren eine Anzahl Häuser zusammengefallen, unter
anderen war auch das deutsche Gesandtschaftsgebäude
zerstört worden. Eine Woche später mußte ich, am
Typhus erkrankt, in das deutsche Marinelazarett nach
Yokohama. Das Lazarett, welches vom Reich unter-
halten wird, ist ursprünglich eingerichtet für kranke

zehntelang ruhen ſie und wiegen die Umwohner in
Sicherheit. Im Schoße der Berge aber arbeitet die
unheilbringende Kraft raſtlos weiter, bis ſie endlich,
wenn man es am wenigſten vermutet, zum verheerenden
Ausbruch kommt. Erdbeben ſind ſehr häufig. Im
Oktober 1891 fand in dem Centrum des Landes eins
ſtatt, bei welchem 10 000 Menſchenleben vernichtet und
über 100 000 Häuſer in Schutt und Aſche gelegt wurden.
Weitaus die meiſten Erdbeben ſind gänzlich harmlos,
aber ſie rufen ein läſtiges Gefühl der Unſicherheit her-
vor. Der Gedanke drängt ſich gar zu leicht auf: Noch
ein paar Millimeter höher und auch um mein Haus
und mein Leben könnte es geſchehen ſein. Es giebt
wenig Europäer, die nicht allmählich nervös gegen
Erdbeben werden. Ich ſelbſt machte mir jahrelang
blutwenig aus Erdbeben, bis zum Sommer des Jahres
1894. Damals ſchickte mich der Arzt, ein deutſcher
Profeſſor der Medizin an der Univerſität zu Tokyo,
wegen Krankheit auf das Land. Ich war allein in
einem Raum der Eiſenbahn und lag lang ausgeſtreckt
auf dem Sitze. Plötzlich ein Ruck — und ich lag am
Boden. Der Wagen ſchwankte bedenklich hin und her,
ſo daß ich nicht anders meinte, als daß es ſich um
eine Entgleiſung handele. Auf der nächſten Station
aber erfuhr ich, daß es ein Erdbeben geweſen ſei. An
einer Stelle, die wir gerade paſſiert hatten, war der
Schienenſtrang entzwei geriſſen, in Tokyo und Yokohama
waren eine Anzahl Häuſer zuſammengefallen, unter
anderen war auch das deutſche Geſandtſchaftsgebäude
zerſtört worden. Eine Woche ſpäter mußte ich, am
Typhus erkrankt, in das deutſche Marinelazarett nach
Yokohama. Das Lazarett, welches vom Reich unter-
halten wird, iſt urſprünglich eingerichtet für kranke

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[8/0022] zehntelang ruhen ſie und wiegen die Umwohner in Sicherheit. Im Schoße der Berge aber arbeitet die unheilbringende Kraft raſtlos weiter, bis ſie endlich, wenn man es am wenigſten vermutet, zum verheerenden Ausbruch kommt. Erdbeben ſind ſehr häufig. Im Oktober 1891 fand in dem Centrum des Landes eins ſtatt, bei welchem 10 000 Menſchenleben vernichtet und über 100 000 Häuſer in Schutt und Aſche gelegt wurden. Weitaus die meiſten Erdbeben ſind gänzlich harmlos, aber ſie rufen ein läſtiges Gefühl der Unſicherheit her- vor. Der Gedanke drängt ſich gar zu leicht auf: Noch ein paar Millimeter höher und auch um mein Haus und mein Leben könnte es geſchehen ſein. Es giebt wenig Europäer, die nicht allmählich nervös gegen Erdbeben werden. Ich ſelbſt machte mir jahrelang blutwenig aus Erdbeben, bis zum Sommer des Jahres 1894. Damals ſchickte mich der Arzt, ein deutſcher Profeſſor der Medizin an der Univerſität zu Tokyo, wegen Krankheit auf das Land. Ich war allein in einem Raum der Eiſenbahn und lag lang ausgeſtreckt auf dem Sitze. Plötzlich ein Ruck — und ich lag am Boden. Der Wagen ſchwankte bedenklich hin und her, ſo daß ich nicht anders meinte, als daß es ſich um eine Entgleiſung handele. Auf der nächſten Station aber erfuhr ich, daß es ein Erdbeben geweſen ſei. An einer Stelle, die wir gerade paſſiert hatten, war der Schienenſtrang entzwei geriſſen, in Tokyo und Yokohama waren eine Anzahl Häuſer zuſammengefallen, unter anderen war auch das deutſche Geſandtſchaftsgebäude zerſtört worden. Eine Woche ſpäter mußte ich, am Typhus erkrankt, in das deutſche Marinelazarett nach Yokohama. Das Lazarett, welches vom Reich unter- halten wird, iſt urſprünglich eingerichtet für kranke

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/22>, abgerufen am 30.04.2024.