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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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der sozialen Organisation, als der Willensform des Ge-
meinschaftslebens. Auf diese wird also die zweite, der indi-
viduellen Tapferkeit entsprechende Tugend der Gemeinschaft
sich beziehen. Es ist das Einstehen für Gesetzlichkeit;
für Gesetzlichkeit, man möchte fast sagen, um jeden Preis,
nur nicht um den Preis der sittlichen Wahrheit.

Das Gesetz, die soziale Regelung überhaupt, ist der einzig
fassbare Ausdruck des Willens der Gemeinschaft. Sie
bleibt es selbst dann, wenn sie thatsächlich keineswegs den
Willen aller oder auch nur der Mehrheit zutreffend zum Aus-
druck bringt. Wäre das selbst der Fall, so wäre sie doch
nicht deshalb sittlicher Achtung würdig, weil es die Vielen
sind, die in ihr ihren Willen kundgeben. Der Wille der Vielen
kann irren, so gut wie der jedes Einzelnen; sind es doch nur
viele Einzelne. Sittliche Achtung verdient die soziale Ordnung
an sich, ihrem Inhalt nach, nur, soweit sie die Oberhoheit der
sittlichen Vernunft wenigstens im Grundsatz anerkennt und
einen ernstlichen Versuch darstellt ihr Gebot in der gegebenen
Gemeinschaft zur Herrschaft zu bringen. Kann also die so-
ziale Regelung überhaupt mit dem Anspruch auf unverbrüch-
liche Beobachtung, welches auch ihr Inhalt sei, be-
rechtigter Weise auftreten? Giebt es ein ursprüngliches
sittliches Recht des Rechts
? Wir beantworten die
Frage*) dahin: Eine soziale Regelung überhaupt und zwar
in verbindlicher Form, d. i. ein Recht, ist unumgäng-
liche Voraussetzung einer verlässlichen Gemeinschaftsordnung,
wir dürfen dafür auch sagen: eines "Willens" der Ge-
meinschaft überhaupt
, also auch einer solchen Ordnung,
eines solchen sozialen Willens, der den Forderungen sittlicher
Vernunft auch nur in irgendeinem Maasse soll angenähert
werden können. Die Bedeutung einer formalen Bedingung
verlässlicher sozialer Ordnung überhaupt sichert dem Recht
eine Verbindlichkeit, die, in abstracto auch vom sittlichen Ge-
setz nicht abhängend, angesichts der Forderung der sittlichen
Gestaltung des sozialen Lebens ihr volles Gewicht behält, ja

*) Vgl. Stammler, S. 551 ff.

der sozialen Organisation, als der Willensform des Ge-
meinschaftslebens. Auf diese wird also die zweite, der indi-
viduellen Tapferkeit entsprechende Tugend der Gemeinschaft
sich beziehen. Es ist das Einstehen für Gesetzlichkeit;
für Gesetzlichkeit, man möchte fast sagen, um jeden Preis,
nur nicht um den Preis der sittlichen Wahrheit.

Das Gesetz, die soziale Regelung überhaupt, ist der einzig
fassbare Ausdruck des Willens der Gemeinschaft. Sie
bleibt es selbst dann, wenn sie thatsächlich keineswegs den
Willen aller oder auch nur der Mehrheit zutreffend zum Aus-
druck bringt. Wäre das selbst der Fall, so wäre sie doch
nicht deshalb sittlicher Achtung würdig, weil es die Vielen
sind, die in ihr ihren Willen kundgeben. Der Wille der Vielen
kann irren, so gut wie der jedes Einzelnen; sind es doch nur
viele Einzelne. Sittliche Achtung verdient die soziale Ordnung
an sich, ihrem Inhalt nach, nur, soweit sie die Oberhoheit der
sittlichen Vernunft wenigstens im Grundsatz anerkennt und
einen ernstlichen Versuch darstellt ihr Gebot in der gegebenen
Gemeinschaft zur Herrschaft zu bringen. Kann also die so-
ziale Regelung überhaupt mit dem Anspruch auf unverbrüch-
liche Beobachtung, welches auch ihr Inhalt sei, be-
rechtigter Weise auftreten? Giebt es ein ursprüngliches
sittliches Recht des Rechts
? Wir beantworten die
Frage*) dahin: Eine soziale Regelung überhaupt und zwar
in verbindlicher Form, d. i. ein Recht, ist unumgäng-
liche Voraussetzung einer verlässlichen Gemeinschaftsordnung,
wir dürfen dafür auch sagen: eines „Willens“ der Ge-
meinschaft überhaupt
, also auch einer solchen Ordnung,
eines solchen sozialen Willens, der den Forderungen sittlicher
Vernunft auch nur in irgendeinem Maasse soll angenähert
werden können. Die Bedeutung einer formalen Bedingung
verlässlicher sozialer Ordnung überhaupt sichert dem Recht
eine Verbindlichkeit, die, in abstracto auch vom sittlichen Ge-
setz nicht abhängend, angesichts der Forderung der sittlichen
Gestaltung des sozialen Lebens ihr volles Gewicht behält, ja

*) Vgl. Stammler, S. 551 ff.
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[180/0196] der sozialen Organisation, als der Willensform des Ge- meinschaftslebens. Auf diese wird also die zweite, der indi- viduellen Tapferkeit entsprechende Tugend der Gemeinschaft sich beziehen. Es ist das Einstehen für Gesetzlichkeit; für Gesetzlichkeit, man möchte fast sagen, um jeden Preis, nur nicht um den Preis der sittlichen Wahrheit. Das Gesetz, die soziale Regelung überhaupt, ist der einzig fassbare Ausdruck des Willens der Gemeinschaft. Sie bleibt es selbst dann, wenn sie thatsächlich keineswegs den Willen aller oder auch nur der Mehrheit zutreffend zum Aus- druck bringt. Wäre das selbst der Fall, so wäre sie doch nicht deshalb sittlicher Achtung würdig, weil es die Vielen sind, die in ihr ihren Willen kundgeben. Der Wille der Vielen kann irren, so gut wie der jedes Einzelnen; sind es doch nur viele Einzelne. Sittliche Achtung verdient die soziale Ordnung an sich, ihrem Inhalt nach, nur, soweit sie die Oberhoheit der sittlichen Vernunft wenigstens im Grundsatz anerkennt und einen ernstlichen Versuch darstellt ihr Gebot in der gegebenen Gemeinschaft zur Herrschaft zu bringen. Kann also die so- ziale Regelung überhaupt mit dem Anspruch auf unverbrüch- liche Beobachtung, welches auch ihr Inhalt sei, be- rechtigter Weise auftreten? Giebt es ein ursprüngliches sittliches Recht des Rechts? Wir beantworten die Frage *) dahin: Eine soziale Regelung überhaupt und zwar in verbindlicher Form, d. i. ein Recht, ist unumgäng- liche Voraussetzung einer verlässlichen Gemeinschaftsordnung, wir dürfen dafür auch sagen: eines „Willens“ der Ge- meinschaft überhaupt, also auch einer solchen Ordnung, eines solchen sozialen Willens, der den Forderungen sittlicher Vernunft auch nur in irgendeinem Maasse soll angenähert werden können. Die Bedeutung einer formalen Bedingung verlässlicher sozialer Ordnung überhaupt sichert dem Recht eine Verbindlichkeit, die, in abstracto auch vom sittlichen Ge- setz nicht abhängend, angesichts der Forderung der sittlichen Gestaltung des sozialen Lebens ihr volles Gewicht behält, ja *) Vgl. Stammler, S. 551 ff.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/196>, abgerufen am 28.04.2024.