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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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mit dem Arbeitsleben der Gemeinschaft, die Ausbildung der
regelnden Kraft des Willens im Einzelnen mit der Bethätigung
der gleichen Kraft in der Gemeinschaft, also mit den bestehenden
sozialen Organisationen; während die Reife der eigenen Ver-
nunft des Einzelnen zusammenfallen wird mit seiner thätigen
Anteilnahme an der vernunftgemässen Gestaltung des Gemein-
schaftslebens durch gemeinsame Bildungspflege. Je reiner die
Organisation der Gemeinschaft ihrem eigenen Gesetze und da-
mit ihrem wahren und letzten Zweck der Menschenbildung
entspricht, um so klarer wird sich diese Beziehung im Gange
der Willenserziehung erkennen lassen; so zwar, dass jedes
Glied der Gemeinschaft auf geregelte Weise diese drei Stufen
durchläuft.

Hiermit ist ein Prinzip für die soziale Organisation der
Willenserziehung gewonnen. Wir untersuchen weiter, wo etwa
in der Erfahrung sich eine Grundlage zu solcher Organisation
erkennen lässt. Wir gehen aus von dem Altbekannten: dass
zur Erziehung des Menschen, insbesondere des menschlichen
Willens in entwickelter Gemeinschaft naturgemäss drei Faktoren
zusammenwirken: das Haus, die Schule und ein Drittes,
das man nicht recht zu nennen weiss; offenbar viel zu un-
bestimmt bezeichnet man es als das Leben, nämlich das Leben
ausser dem Hause und der Schule. Es scheint doch nicht,
dass das Leben in diesem weiten Sinne unter allen Umständen
die Menschen erzieht und gar recht erzieht. Es muss zum
wenigsten etwas Bestimmteres an dem so allgemeinen "Leben"
sein, das eine erziehende Wirkung gleich dem Hause und der
Schule übt; vermutlich etwas diesen beiden Aehnliches.
Nun wissen wir schon, dass es wesentlich die organisierte
Gemeinschaft
ist, welche erzieht. Das trifft zu auf das
Haus und die Schule: beide erziehen als Formen organisierter
Gemeinschaft. Nur unter der gleichen Bedingung wird also
auch das Leben ausserhalb beider erziehend wirken. In ur-
sprünglichen, patriarchalischen Formen des Gemeinschaftslebens
lässt sich das auch unmittelbar erkennen; es verbirgt sich
etwas mehr in entwickelteren, aber noch zu keinem Abschluss
der Entwicklung gelangten Gesellschaftsstadien, so dem heutigen.

mit dem Arbeitsleben der Gemeinschaft, die Ausbildung der
regelnden Kraft des Willens im Einzelnen mit der Bethätigung
der gleichen Kraft in der Gemeinschaft, also mit den bestehenden
sozialen Organisationen; während die Reife der eigenen Ver-
nunft des Einzelnen zusammenfallen wird mit seiner thätigen
Anteilnahme an der vernunftgemässen Gestaltung des Gemein-
schaftslebens durch gemeinsame Bildungspflege. Je reiner die
Organisation der Gemeinschaft ihrem eigenen Gesetze und da-
mit ihrem wahren und letzten Zweck der Menschenbildung
entspricht, um so klarer wird sich diese Beziehung im Gange
der Willenserziehung erkennen lassen; so zwar, dass jedes
Glied der Gemeinschaft auf geregelte Weise diese drei Stufen
durchläuft.

Hiermit ist ein Prinzip für die soziale Organisation der
Willenserziehung gewonnen. Wir untersuchen weiter, wo etwa
in der Erfahrung sich eine Grundlage zu solcher Organisation
erkennen lässt. Wir gehen aus von dem Altbekannten: dass
zur Erziehung des Menschen, insbesondere des menschlichen
Willens in entwickelter Gemeinschaft naturgemäss drei Faktoren
zusammenwirken: das Haus, die Schule und ein Drittes,
das man nicht recht zu nennen weiss; offenbar viel zu un-
bestimmt bezeichnet man es als das Leben, nämlich das Leben
ausser dem Hause und der Schule. Es scheint doch nicht,
dass das Leben in diesem weiten Sinne unter allen Umständen
die Menschen erzieht und gar recht erzieht. Es muss zum
wenigsten etwas Bestimmteres an dem so allgemeinen „Leben“
sein, das eine erziehende Wirkung gleich dem Hause und der
Schule übt; vermutlich etwas diesen beiden Aehnliches.
Nun wissen wir schon, dass es wesentlich die organisierte
Gemeinschaft
ist, welche erzieht. Das trifft zu auf das
Haus und die Schule: beide erziehen als Formen organisierter
Gemeinschaft. Nur unter der gleichen Bedingung wird also
auch das Leben ausserhalb beider erziehend wirken. In ur-
sprünglichen, patriarchalischen Formen des Gemeinschaftslebens
lässt sich das auch unmittelbar erkennen; es verbirgt sich
etwas mehr in entwickelteren, aber noch zu keinem Abschluss
der Entwicklung gelangten Gesellschaftsstadien, so dem heutigen.

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[195/0211] mit dem Arbeitsleben der Gemeinschaft, die Ausbildung der regelnden Kraft des Willens im Einzelnen mit der Bethätigung der gleichen Kraft in der Gemeinschaft, also mit den bestehenden sozialen Organisationen; während die Reife der eigenen Ver- nunft des Einzelnen zusammenfallen wird mit seiner thätigen Anteilnahme an der vernunftgemässen Gestaltung des Gemein- schaftslebens durch gemeinsame Bildungspflege. Je reiner die Organisation der Gemeinschaft ihrem eigenen Gesetze und da- mit ihrem wahren und letzten Zweck der Menschenbildung entspricht, um so klarer wird sich diese Beziehung im Gange der Willenserziehung erkennen lassen; so zwar, dass jedes Glied der Gemeinschaft auf geregelte Weise diese drei Stufen durchläuft. Hiermit ist ein Prinzip für die soziale Organisation der Willenserziehung gewonnen. Wir untersuchen weiter, wo etwa in der Erfahrung sich eine Grundlage zu solcher Organisation erkennen lässt. Wir gehen aus von dem Altbekannten: dass zur Erziehung des Menschen, insbesondere des menschlichen Willens in entwickelter Gemeinschaft naturgemäss drei Faktoren zusammenwirken: das Haus, die Schule und ein Drittes, das man nicht recht zu nennen weiss; offenbar viel zu un- bestimmt bezeichnet man es als das Leben, nämlich das Leben ausser dem Hause und der Schule. Es scheint doch nicht, dass das Leben in diesem weiten Sinne unter allen Umständen die Menschen erzieht und gar recht erzieht. Es muss zum wenigsten etwas Bestimmteres an dem so allgemeinen „Leben“ sein, das eine erziehende Wirkung gleich dem Hause und der Schule übt; vermutlich etwas diesen beiden Aehnliches. Nun wissen wir schon, dass es wesentlich die organisierte Gemeinschaft ist, welche erzieht. Das trifft zu auf das Haus und die Schule: beide erziehen als Formen organisierter Gemeinschaft. Nur unter der gleichen Bedingung wird also auch das Leben ausserhalb beider erziehend wirken. In ur- sprünglichen, patriarchalischen Formen des Gemeinschaftslebens lässt sich das auch unmittelbar erkennen; es verbirgt sich etwas mehr in entwickelteren, aber noch zu keinem Abschluss der Entwicklung gelangten Gesellschaftsstadien, so dem heutigen.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/211>, abgerufen am 29.04.2024.