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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Regel und der Ordnung überhaupt dem werdenden Menschen
einzuprägen und gleichsam zur andern Natur werden zu lassen.

Darin liegt aber zugleich die Beziehung der Schule zur
sozialen Organisation, die wir unsern Prinzipien gemäss
erwarten müssen. Eine überraschende Analogie thut sich auf
zwischen der Schule und den sozialen Ordnungen, vorzüglich
dem Recht. Der diktatorische Ausspruch von Geboten oder
"Vorschriften", denen nachzuhandeln jedem in die fragliche
Organisation (die Rechtsordnung) Eintretenden zur Pflicht ge-
macht wird, die schon Protagoras klug den "Vorschriften"
des Schreiblehrers verglich; die Strafbestimmung für den Zu-
widerhandelnden, die Belohnung durch öffentliche Auszeich-
nung, durch Aufrücken zu einem höheren Platz z. B. und gar
durch lächerliche äussere Abzeichen, was zwar in den Schulen
glücklich abgekommen ist; überhaupt dieser ganze bis auf
Wort und Geberde, vorschriftsmässiges Material u. s. w. sich
erstreckende Formalismus des öffentlichen Lebens bietet
zu den Gesetzen und Gebräuchen der Schule eine schlagende
Analogie, die sich den ältesten Sozialforschern aufdrängen
musste und deren Grund nur in irgend einem koinzidierenden
Momente gesucht werden kann. Man vergleiche etwa in der-
selben Hinsicht mit dem Recht die Wirtschaft. Sie fordert
im Gegenteil möglichste Bewegungsfreiheit; denn sie muss sich
der jeweiligen Lage bis ins Individuellste anschmiegen können.
Dennoch kann sie der Form des Rechtes nicht entbehren, denn
jede soziale Thätigkeit bedarf ihrer, doch ohne darin aufzu-
gehen. So muss sich zu dem Materialen der Bildungsthätig-
keit, der Entfaltung der Thätigkeitstriebe, das formale Ele-
ment der äusseren Willensregelung in der Erziehung verhalten,
und zwar muss die Form, wie dort, als etwas Eigenes, in sich
Gegründetes zum Bewusstsein kommen. Das leistet die Schule,
und sie hat darin ihre ganz eigentümliche, in sich abge-
schlossene Aufgabe.

Auch erstreckt sich dies formale Element thatsächlich
auf alle Seiten oder Richtungen menschlicher Bildung. So
gehorcht zwar schon die ungeschulte Sprache des Kindes der
Sprachregel; sie ist ihm praktisch so wohl bewusst, dass es

Regel und der Ordnung überhaupt dem werdenden Menschen
einzuprägen und gleichsam zur andern Natur werden zu lassen.

Darin liegt aber zugleich die Beziehung der Schule zur
sozialen Organisation, die wir unsern Prinzipien gemäss
erwarten müssen. Eine überraschende Analogie thut sich auf
zwischen der Schule und den sozialen Ordnungen, vorzüglich
dem Recht. Der diktatorische Ausspruch von Geboten oder
„Vorschriften“, denen nachzuhandeln jedem in die fragliche
Organisation (die Rechtsordnung) Eintretenden zur Pflicht ge-
macht wird, die schon Protagoras klug den „Vorschriften“
des Schreiblehrers verglich; die Strafbestimmung für den Zu-
widerhandelnden, die Belohnung durch öffentliche Auszeich-
nung, durch Aufrücken zu einem höheren Platz z. B. und gar
durch lächerliche äussere Abzeichen, was zwar in den Schulen
glücklich abgekommen ist; überhaupt dieser ganze bis auf
Wort und Geberde, vorschriftsmässiges Material u. s. w. sich
erstreckende Formalismus des öffentlichen Lebens bietet
zu den Gesetzen und Gebräuchen der Schule eine schlagende
Analogie, die sich den ältesten Sozialforschern aufdrängen
musste und deren Grund nur in irgend einem koinzidierenden
Momente gesucht werden kann. Man vergleiche etwa in der-
selben Hinsicht mit dem Recht die Wirtschaft. Sie fordert
im Gegenteil möglichste Bewegungsfreiheit; denn sie muss sich
der jeweiligen Lage bis ins Individuellste anschmiegen können.
Dennoch kann sie der Form des Rechtes nicht entbehren, denn
jede soziale Thätigkeit bedarf ihrer, doch ohne darin aufzu-
gehen. So muss sich zu dem Materialen der Bildungsthätig-
keit, der Entfaltung der Thätigkeitstriebe, das formale Ele-
ment der äusseren Willensregelung in der Erziehung verhalten,
und zwar muss die Form, wie dort, als etwas Eigenes, in sich
Gegründetes zum Bewusstsein kommen. Das leistet die Schule,
und sie hat darin ihre ganz eigentümliche, in sich abge-
schlossene Aufgabe.

Auch erstreckt sich dies formale Element thatsächlich
auf alle Seiten oder Richtungen menschlicher Bildung. So
gehorcht zwar schon die ungeschulte Sprache des Kindes der
Sprachregel; sie ist ihm praktisch so wohl bewusst, dass es

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[205/0221] Regel und der Ordnung überhaupt dem werdenden Menschen einzuprägen und gleichsam zur andern Natur werden zu lassen. Darin liegt aber zugleich die Beziehung der Schule zur sozialen Organisation, die wir unsern Prinzipien gemäss erwarten müssen. Eine überraschende Analogie thut sich auf zwischen der Schule und den sozialen Ordnungen, vorzüglich dem Recht. Der diktatorische Ausspruch von Geboten oder „Vorschriften“, denen nachzuhandeln jedem in die fragliche Organisation (die Rechtsordnung) Eintretenden zur Pflicht ge- macht wird, die schon Protagoras klug den „Vorschriften“ des Schreiblehrers verglich; die Strafbestimmung für den Zu- widerhandelnden, die Belohnung durch öffentliche Auszeich- nung, durch Aufrücken zu einem höheren Platz z. B. und gar durch lächerliche äussere Abzeichen, was zwar in den Schulen glücklich abgekommen ist; überhaupt dieser ganze bis auf Wort und Geberde, vorschriftsmässiges Material u. s. w. sich erstreckende Formalismus des öffentlichen Lebens bietet zu den Gesetzen und Gebräuchen der Schule eine schlagende Analogie, die sich den ältesten Sozialforschern aufdrängen musste und deren Grund nur in irgend einem koinzidierenden Momente gesucht werden kann. Man vergleiche etwa in der- selben Hinsicht mit dem Recht die Wirtschaft. Sie fordert im Gegenteil möglichste Bewegungsfreiheit; denn sie muss sich der jeweiligen Lage bis ins Individuellste anschmiegen können. Dennoch kann sie der Form des Rechtes nicht entbehren, denn jede soziale Thätigkeit bedarf ihrer, doch ohne darin aufzu- gehen. So muss sich zu dem Materialen der Bildungsthätig- keit, der Entfaltung der Thätigkeitstriebe, das formale Ele- ment der äusseren Willensregelung in der Erziehung verhalten, und zwar muss die Form, wie dort, als etwas Eigenes, in sich Gegründetes zum Bewusstsein kommen. Das leistet die Schule, und sie hat darin ihre ganz eigentümliche, in sich abge- schlossene Aufgabe. Auch erstreckt sich dies formale Element thatsächlich auf alle Seiten oder Richtungen menschlicher Bildung. So gehorcht zwar schon die ungeschulte Sprache des Kindes der Sprachregel; sie ist ihm praktisch so wohl bewusst, dass es

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/221>, abgerufen am 29.04.2024.