Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

der "sozialen Frage" vertrösten. Die gesittete Menschheit
wird zu Grunde gehen, bevor zu deren Lösung auch nur ein
ernster Schritt gethan ist, wenn nicht für diese allererste Basis
der Gesundung in der Weise, wie es auch gegenwärtig mög-
lich ist, gesorgt wird, und dann desto mehr, je nachdem die
im allgemeinen Zustand der Gesellschaft liegenden Bedingungen
dafür sich nach und nach günstiger gestalten.

In solchem Sinne lässt sich übrigens das, was not thut,
leicht angeben. Es muss, wo die Bedingungen eines gesunden
Familienlebens nicht gegeben sind, Ersatz dafür geschaffen
werden in einem ausgebildeten Kindergartenwesen, in Familien-
verbänden, "Nachbarschaftsgilden", oder welche andre, den je-
weiligen Bedingungen noch besser angepasste Form sich finden
mag. Es muss ermöglicht werden, dass die Kindheit, aber auch
die heranreifende Jugend, nicht mit plötzlichem Riss aus jeder
familienartigen Gemeinschaft herausgenommen wird; es muss
also, über die Familie im engern Sinn hinaus, in einem weiteren,
aber immer übersehbaren Kreise persönlicher Beziehungen eine
familienhafte Gemeinschaft sich organisieren, so dass man auch
bei weitester und freister Gestaltung der Lebensziele solchen
heilsamen Einflüssen, wie sie jetzt allein in der eigentlichen
Familie (und auch da wie selten!) sich recht entfalten, nie
ganz entzogen wird; dass zum wenigsten ein Verständnis solcher
Gemeinschaft sich immer erhält, und die Roheit des Empfindens
mit irgend einem Grade von Bildung und gesellschaftlicher
Achtung unverträglich wird, die jetzt z. B. in dem Gebrauch,
den unsere zahlungsfähige Jugend von der Prostitution macht,
ihre ekelhafte Grimasse kaum auch nur zu verbergen nötig
hat. Wie die ganze Regelung des Affektlebens, ruht ganz
besonders die Erziehung zur Keuschheit fast allein auf diesem
Grunde. Unregelmässigkeit der Begierden ist grossenteils
Wirkung einer unökonomischen Verwaltung des Körpers; ge-
regelte und straffe Thätigkeit, insbesondere sofern sie zugleich
als gesunde Leibesübung wirkt oder durch solche ergänzt wird,
ist dagegen eine wichtige, aber keineswegs ausreichende Hülfe.
Denn der innerste Grund des Schadens liegt in der nicht ge-
zügelten Phantasie und in der Schlaffheit des Wollens, mit

der „sozialen Frage“ vertrösten. Die gesittete Menschheit
wird zu Grunde gehen, bevor zu deren Lösung auch nur ein
ernster Schritt gethan ist, wenn nicht für diese allererste Basis
der Gesundung in der Weise, wie es auch gegenwärtig mög-
lich ist, gesorgt wird, und dann desto mehr, je nachdem die
im allgemeinen Zustand der Gesellschaft liegenden Bedingungen
dafür sich nach und nach günstiger gestalten.

In solchem Sinne lässt sich übrigens das, was not thut,
leicht angeben. Es muss, wo die Bedingungen eines gesunden
Familienlebens nicht gegeben sind, Ersatz dafür geschaffen
werden in einem ausgebildeten Kindergartenwesen, in Familien-
verbänden, „Nachbarschaftsgilden“, oder welche andre, den je-
weiligen Bedingungen noch besser angepasste Form sich finden
mag. Es muss ermöglicht werden, dass die Kindheit, aber auch
die heranreifende Jugend, nicht mit plötzlichem Riss aus jeder
familienartigen Gemeinschaft herausgenommen wird; es muss
also, über die Familie im engern Sinn hinaus, in einem weiteren,
aber immer übersehbaren Kreise persönlicher Beziehungen eine
familienhafte Gemeinschaft sich organisieren, so dass man auch
bei weitester und freister Gestaltung der Lebensziele solchen
heilsamen Einflüssen, wie sie jetzt allein in der eigentlichen
Familie (und auch da wie selten!) sich recht entfalten, nie
ganz entzogen wird; dass zum wenigsten ein Verständnis solcher
Gemeinschaft sich immer erhält, und die Roheit des Empfindens
mit irgend einem Grade von Bildung und gesellschaftlicher
Achtung unverträglich wird, die jetzt z. B. in dem Gebrauch,
den unsere zahlungsfähige Jugend von der Prostitution macht,
ihre ekelhafte Grimasse kaum auch nur zu verbergen nötig
hat. Wie die ganze Regelung des Affektlebens, ruht ganz
besonders die Erziehung zur Keuschheit fast allein auf diesem
Grunde. Unregelmässigkeit der Begierden ist grossenteils
Wirkung einer unökonomischen Verwaltung des Körpers; ge-
regelte und straffe Thätigkeit, insbesondere sofern sie zugleich
als gesunde Leibesübung wirkt oder durch solche ergänzt wird,
ist dagegen eine wichtige, aber keineswegs ausreichende Hülfe.
Denn der innerste Grund des Schadens liegt in der nicht ge-
zügelten Phantasie und in der Schlaffheit des Wollens, mit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0268" n="252"/>
der &#x201E;sozialen Frage&#x201C; vertrösten. Die gesittete Menschheit<lb/>
wird zu Grunde gehen, bevor zu deren Lösung auch nur <hi rendition="#g">ein</hi><lb/>
ernster Schritt gethan ist, wenn nicht für diese allererste Basis<lb/>
der Gesundung in der Weise, wie es auch gegenwärtig mög-<lb/>
lich ist, gesorgt wird, und dann desto mehr, je nachdem die<lb/>
im allgemeinen Zustand der Gesellschaft liegenden Bedingungen<lb/>
dafür sich nach und nach günstiger gestalten.</p><lb/>
          <p>In solchem Sinne lässt sich übrigens das, was not thut,<lb/>
leicht angeben. Es muss, wo die Bedingungen eines gesunden<lb/>
Familienlebens nicht gegeben sind, Ersatz dafür geschaffen<lb/>
werden in einem ausgebildeten Kindergartenwesen, in Familien-<lb/>
verbänden, &#x201E;Nachbarschaftsgilden&#x201C;, oder welche andre, den je-<lb/>
weiligen Bedingungen noch besser angepasste Form sich finden<lb/>
mag. Es muss ermöglicht werden, dass die Kindheit, aber auch<lb/>
die heranreifende Jugend, nicht mit plötzlichem Riss aus jeder<lb/>
familienartigen Gemeinschaft herausgenommen wird; es muss<lb/>
also, über die Familie im engern Sinn hinaus, in einem weiteren,<lb/>
aber immer übersehbaren Kreise persönlicher Beziehungen eine<lb/>
familienhafte Gemeinschaft sich organisieren, so dass man auch<lb/>
bei weitester und freister Gestaltung der Lebensziele solchen<lb/>
heilsamen Einflüssen, wie sie jetzt allein in der eigentlichen<lb/>
Familie (und auch da wie selten!) sich recht entfalten, nie<lb/>
ganz entzogen wird; dass zum wenigsten ein Verständnis solcher<lb/>
Gemeinschaft sich immer erhält, und die Roheit des Empfindens<lb/>
mit irgend einem Grade von Bildung und gesellschaftlicher<lb/>
Achtung unverträglich wird, die jetzt z. B. in dem Gebrauch,<lb/>
den unsere zahlungsfähige Jugend von der Prostitution macht,<lb/>
ihre ekelhafte Grimasse kaum auch nur zu verbergen nötig<lb/>
hat. Wie die ganze Regelung des Affektlebens, ruht ganz<lb/>
besonders die Erziehung zur Keuschheit fast allein auf diesem<lb/>
Grunde. Unregelmässigkeit der Begierden ist grossenteils<lb/>
Wirkung einer unökonomischen Verwaltung des Körpers; ge-<lb/>
regelte und straffe Thätigkeit, insbesondere sofern sie zugleich<lb/>
als gesunde Leibesübung wirkt oder durch solche ergänzt wird,<lb/>
ist dagegen eine wichtige, aber keineswegs ausreichende Hülfe.<lb/>
Denn der innerste Grund des Schadens liegt in der nicht ge-<lb/>
zügelten Phantasie und in der Schlaffheit des Wollens, mit<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[252/0268] der „sozialen Frage“ vertrösten. Die gesittete Menschheit wird zu Grunde gehen, bevor zu deren Lösung auch nur ein ernster Schritt gethan ist, wenn nicht für diese allererste Basis der Gesundung in der Weise, wie es auch gegenwärtig mög- lich ist, gesorgt wird, und dann desto mehr, je nachdem die im allgemeinen Zustand der Gesellschaft liegenden Bedingungen dafür sich nach und nach günstiger gestalten. In solchem Sinne lässt sich übrigens das, was not thut, leicht angeben. Es muss, wo die Bedingungen eines gesunden Familienlebens nicht gegeben sind, Ersatz dafür geschaffen werden in einem ausgebildeten Kindergartenwesen, in Familien- verbänden, „Nachbarschaftsgilden“, oder welche andre, den je- weiligen Bedingungen noch besser angepasste Form sich finden mag. Es muss ermöglicht werden, dass die Kindheit, aber auch die heranreifende Jugend, nicht mit plötzlichem Riss aus jeder familienartigen Gemeinschaft herausgenommen wird; es muss also, über die Familie im engern Sinn hinaus, in einem weiteren, aber immer übersehbaren Kreise persönlicher Beziehungen eine familienhafte Gemeinschaft sich organisieren, so dass man auch bei weitester und freister Gestaltung der Lebensziele solchen heilsamen Einflüssen, wie sie jetzt allein in der eigentlichen Familie (und auch da wie selten!) sich recht entfalten, nie ganz entzogen wird; dass zum wenigsten ein Verständnis solcher Gemeinschaft sich immer erhält, und die Roheit des Empfindens mit irgend einem Grade von Bildung und gesellschaftlicher Achtung unverträglich wird, die jetzt z. B. in dem Gebrauch, den unsere zahlungsfähige Jugend von der Prostitution macht, ihre ekelhafte Grimasse kaum auch nur zu verbergen nötig hat. Wie die ganze Regelung des Affektlebens, ruht ganz besonders die Erziehung zur Keuschheit fast allein auf diesem Grunde. Unregelmässigkeit der Begierden ist grossenteils Wirkung einer unökonomischen Verwaltung des Körpers; ge- regelte und straffe Thätigkeit, insbesondere sofern sie zugleich als gesunde Leibesübung wirkt oder durch solche ergänzt wird, ist dagegen eine wichtige, aber keineswegs ausreichende Hülfe. Denn der innerste Grund des Schadens liegt in der nicht ge- zügelten Phantasie und in der Schlaffheit des Wollens, mit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/268
Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/268>, abgerufen am 08.05.2024.