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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Litteratur und Kunst noch lebenskräftig im Volke erweist, als
dass es zulässig oder überhaupt möglich wäre, die allgemeine
und öffentliche Erziehung mit einem gewaltsamen Riss, heute
oder in naher Zukunft, von ihr ganz zu lösen. Und so müssen
freilich die, welche nur eine Religion der Transzendenz kennen
und diese mit uns ablehnen, die ernsteste Schwierigkeit finden,
mit der öffentlichen Erziehung, wie sie gegenwärtig ist und
nur sein kann, sich überhaupt auf erträgliche Weise abzu-
finden.

Nachdem sich uns aber eine Möglichkeit eröffnet hat, den
menschlichen Kern der Religion festzuhalten und nur den un-
haltbaren Anspruch der Transzendenz abzulehnen, wird damit
das Problem lösbar. Nur was allgemein überzeugend gemacht
werden kann, darf Gegenstand eines für alle obligatorischen
Unterrichts sein. Dieser Bedingung aber genügt nicht die
Religion, insofern sie den Transzendenzanspruch einschliesst,
dagegen wohl die Religion in ihrer rein humanen Bedeutung.
Thatsächlich hat die Religion der Transzendenz die allbeherr-
schende Bedeutung, die ihr ehedem willig zugestanden wurde,
schon längst eingebüsst. Selbst wer sie zurückwünscht, sollte
doch für ehrlicher erkennen, dass sie abliesse, Ansprüche zum
Scheine aufrechtzuerhalten, die sie in Wahrheit schon längst
nicht mehr durchsetzt. Umso reinere Anerkennung würde dem
echten Kerne der Religion zu teil werden. Das ist der einzige
Weg, den wir für gangbar und zum Ziele der unverkürzten
und in sich harmonischen menschlichen Bildung führend er-
kennen können; der einzige daher auch, auf dem wir die sitt-
liche Wirkung der Religion suchen können.

Was nun den religiösen Erziehungsgang im besonderen
betrifft, so scheiden sich wieder in grösster Deutlichkeit die
drei Stufen menschlicher Bildung. Die unterste ist die des
naiven, noch mit keinem Anspruch der Wissenschaft und der
reinen humanen Sittlichkeit komplizierten und daher kollidie-
renden "Kinderglaubens"; die gefahrloseste von allen. Diese
Stufe der Religion dem Kinde vorzuenthalten sehe ich keinen
stichhaltigen Grund. Von dogmatischer Verhärtung oder von
irgend einer sittlichen Gefahr kann auf dieser Stufe doch nicht

Litteratur und Kunst noch lebenskräftig im Volke erweist, als
dass es zulässig oder überhaupt möglich wäre, die allgemeine
und öffentliche Erziehung mit einem gewaltsamen Riss, heute
oder in naher Zukunft, von ihr ganz zu lösen. Und so müssen
freilich die, welche nur eine Religion der Transzendenz kennen
und diese mit uns ablehnen, die ernsteste Schwierigkeit finden,
mit der öffentlichen Erziehung, wie sie gegenwärtig ist und
nur sein kann, sich überhaupt auf erträgliche Weise abzu-
finden.

Nachdem sich uns aber eine Möglichkeit eröffnet hat, den
menschlichen Kern der Religion festzuhalten und nur den un-
haltbaren Anspruch der Transzendenz abzulehnen, wird damit
das Problem lösbar. Nur was allgemein überzeugend gemacht
werden kann, darf Gegenstand eines für alle obligatorischen
Unterrichts sein. Dieser Bedingung aber genügt nicht die
Religion, insofern sie den Transzendenzanspruch einschliesst,
dagegen wohl die Religion in ihrer rein humanen Bedeutung.
Thatsächlich hat die Religion der Transzendenz die allbeherr-
schende Bedeutung, die ihr ehedem willig zugestanden wurde,
schon längst eingebüsst. Selbst wer sie zurückwünscht, sollte
doch für ehrlicher erkennen, dass sie abliesse, Ansprüche zum
Scheine aufrechtzuerhalten, die sie in Wahrheit schon längst
nicht mehr durchsetzt. Umso reinere Anerkennung würde dem
echten Kerne der Religion zu teil werden. Das ist der einzige
Weg, den wir für gangbar und zum Ziele der unverkürzten
und in sich harmonischen menschlichen Bildung führend er-
kennen können; der einzige daher auch, auf dem wir die sitt-
liche Wirkung der Religion suchen können.

Was nun den religiösen Erziehungsgang im besonderen
betrifft, so scheiden sich wieder in grösster Deutlichkeit die
drei Stufen menschlicher Bildung. Die unterste ist die des
naiven, noch mit keinem Anspruch der Wissenschaft und der
reinen humanen Sittlichkeit komplizierten und daher kollidie-
renden „Kinderglaubens“; die gefahrloseste von allen. Diese
Stufe der Religion dem Kinde vorzuenthalten sehe ich keinen
stichhaltigen Grund. Von dogmatischer Verhärtung oder von
irgend einer sittlichen Gefahr kann auf dieser Stufe doch nicht

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[344/0360] Litteratur und Kunst noch lebenskräftig im Volke erweist, als dass es zulässig oder überhaupt möglich wäre, die allgemeine und öffentliche Erziehung mit einem gewaltsamen Riss, heute oder in naher Zukunft, von ihr ganz zu lösen. Und so müssen freilich die, welche nur eine Religion der Transzendenz kennen und diese mit uns ablehnen, die ernsteste Schwierigkeit finden, mit der öffentlichen Erziehung, wie sie gegenwärtig ist und nur sein kann, sich überhaupt auf erträgliche Weise abzu- finden. Nachdem sich uns aber eine Möglichkeit eröffnet hat, den menschlichen Kern der Religion festzuhalten und nur den un- haltbaren Anspruch der Transzendenz abzulehnen, wird damit das Problem lösbar. Nur was allgemein überzeugend gemacht werden kann, darf Gegenstand eines für alle obligatorischen Unterrichts sein. Dieser Bedingung aber genügt nicht die Religion, insofern sie den Transzendenzanspruch einschliesst, dagegen wohl die Religion in ihrer rein humanen Bedeutung. Thatsächlich hat die Religion der Transzendenz die allbeherr- schende Bedeutung, die ihr ehedem willig zugestanden wurde, schon längst eingebüsst. Selbst wer sie zurückwünscht, sollte doch für ehrlicher erkennen, dass sie abliesse, Ansprüche zum Scheine aufrechtzuerhalten, die sie in Wahrheit schon längst nicht mehr durchsetzt. Umso reinere Anerkennung würde dem echten Kerne der Religion zu teil werden. Das ist der einzige Weg, den wir für gangbar und zum Ziele der unverkürzten und in sich harmonischen menschlichen Bildung führend er- kennen können; der einzige daher auch, auf dem wir die sitt- liche Wirkung der Religion suchen können. Was nun den religiösen Erziehungsgang im besonderen betrifft, so scheiden sich wieder in grösster Deutlichkeit die drei Stufen menschlicher Bildung. Die unterste ist die des naiven, noch mit keinem Anspruch der Wissenschaft und der reinen humanen Sittlichkeit komplizierten und daher kollidie- renden „Kinderglaubens“; die gefahrloseste von allen. Diese Stufe der Religion dem Kinde vorzuenthalten sehe ich keinen stichhaltigen Grund. Von dogmatischer Verhärtung oder von irgend einer sittlichen Gefahr kann auf dieser Stufe doch nicht

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/360>, abgerufen am 29.04.2024.