Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Natur als vollkommene Einheit; aber dieser Gedanke geht
über die reine Thatsächlichkeit, und über die allein berechtigte
Methode der Thatsachenforschung, die Erfahrung, ganz hin-
aus. Es ist immer noch Natur, was man so denkt; aber es
ist nicht mehr Naturerkenntnis, sondern bloss der ideale Ent-
wurf einer Natur, wie sie in Vollständigkeit erkannt sein
würde -- wäre nur diese Vollständigkeit der Erkenntnis metho-
disch erreichbar.

Es kann also nicht glücken, Gesetze des Wollens in Natur-
gesetzen zu gründen, Naturgesetzen der Lust und Unlust etwa,
oder des Begehrens. Denn was man auch immer als Beweg-
kraft des Willens ansetzen mag, den Lusttrieb, den Trieb
überhaupt, oder was man sonst aufstelle, in jedem Falle denkt
man diese Bewegkraft analog einem mechanischen Moment,
gegeben im Anfangspunkt einer psychischen Veränderung und
diese ursachlich bestimmend; bewirkend, dass aus einer ge-
gebenen inneren Lage eine andere wird. Man denkt den Ver-
lauf des Geschehens vom gegebenen Anfang bis zu einem ge-
dachten Endpunkt, wie in aller Verursachung, determiniert
durch die Gesamtheit der Momente, die im Anfangspunkte
dieses Geschehens gegeben waren. Der Gedanke des Zwecks
ist hiervon seinem ganzen Inhalt nach verschieden. In ihm
wird vielmehr der Endpunkt einer Veränderungsreihe gedacht
als durch uns voraus in Freiheit bestimmt, und sodann rück-
wärts bestimmend für die Reihe der Veränderungen, für den
Weg, der vom gegebenen Anfangspunkt zu diesem gedachten
Endpunkt zu beschreiben sei. Voraussetzung dazu ist aber,
dass der gegebene Anfangspunkt, wenn auch etwa an sich,
doch nicht für unser Denken die zureichenden Bestim-
mungsgründe für den folgenden Verlauf enthalte. Das Problem
des Sollens ist demnach präzis so zu stellen: Wodurch ist der
Endpunkt bestimmt, was determiniert meinen Gedanken, das
und das solle sein, gerade sofern er mir nicht determiniert ist
durch meine Kenntnis oder Präsumtion eines ursachlichen Zu-
sammenhanges, gemäss welchem der zweite Moment vom ersten
aus voraus erkennbar wäre? Was determiniert meinen Gedan-
ken, das heisst aber wiederum nicht: welche psychischen

Natur als vollkommene Einheit; aber dieser Gedanke geht
über die reine Thatsächlichkeit, und über die allein berechtigte
Methode der Thatsachenforschung, die Erfahrung, ganz hin-
aus. Es ist immer noch Natur, was man so denkt; aber es
ist nicht mehr Naturerkenntnis, sondern bloss der ideale Ent-
wurf einer Natur, wie sie in Vollständigkeit erkannt sein
würde — wäre nur diese Vollständigkeit der Erkenntnis metho-
disch erreichbar.

Es kann also nicht glücken, Gesetze des Wollens in Natur-
gesetzen zu gründen, Naturgesetzen der Lust und Unlust etwa,
oder des Begehrens. Denn was man auch immer als Beweg-
kraft des Willens ansetzen mag, den Lusttrieb, den Trieb
überhaupt, oder was man sonst aufstelle, in jedem Falle denkt
man diese Bewegkraft analog einem mechanischen Moment,
gegeben im Anfangspunkt einer psychischen Veränderung und
diese ursachlich bestimmend; bewirkend, dass aus einer ge-
gebenen inneren Lage eine andere wird. Man denkt den Ver-
lauf des Geschehens vom gegebenen Anfang bis zu einem ge-
dachten Endpunkt, wie in aller Verursachung, determiniert
durch die Gesamtheit der Momente, die im Anfangspunkte
dieses Geschehens gegeben waren. Der Gedanke des Zwecks
ist hiervon seinem ganzen Inhalt nach verschieden. In ihm
wird vielmehr der Endpunkt einer Veränderungsreihe gedacht
als durch uns voraus in Freiheit bestimmt, und sodann rück-
wärts bestimmend für die Reihe der Veränderungen, für den
Weg, der vom gegebenen Anfangspunkt zu diesem gedachten
Endpunkt zu beschreiben sei. Voraussetzung dazu ist aber,
dass der gegebene Anfangspunkt, wenn auch etwa an sich,
doch nicht für unser Denken die zureichenden Bestim-
mungsgründe für den folgenden Verlauf enthalte. Das Problem
des Sollens ist demnach präzis so zu stellen: Wodurch ist der
Endpunkt bestimmt, was determiniert meinen Gedanken, das
und das solle sein, gerade sofern er mir nicht determiniert ist
durch meine Kenntnis oder Präsumtion eines ursachlichen Zu-
sammenhanges, gemäss welchem der zweite Moment vom ersten
aus voraus erkennbar wäre? Was determiniert meinen Gedan-
ken, das heisst aber wiederum nicht: welche psychischen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0051" n="35"/>
Natur als vollkommene Einheit; aber dieser Gedanke geht<lb/>
über die reine Thatsächlichkeit, und über die allein berechtigte<lb/>
Methode der Thatsachenforschung, die Erfahrung, ganz hin-<lb/>
aus. Es ist immer noch Natur, was man so denkt; aber es<lb/>
ist nicht mehr Naturerkenntnis, sondern bloss der ideale Ent-<lb/>
wurf einer Natur, wie sie in Vollständigkeit erkannt sein<lb/>
würde &#x2014; wäre nur diese Vollständigkeit der Erkenntnis metho-<lb/>
disch erreichbar.</p><lb/>
          <p>Es kann also nicht glücken, Gesetze des Wollens in Natur-<lb/>
gesetzen zu gründen, Naturgesetzen der Lust und Unlust etwa,<lb/>
oder des Begehrens. Denn was man auch immer als Beweg-<lb/>
kraft des Willens ansetzen mag, den Lusttrieb, den Trieb<lb/>
überhaupt, oder was man sonst aufstelle, in jedem Falle denkt<lb/>
man diese Bewegkraft analog einem mechanischen Moment,<lb/>
gegeben im Anfangspunkt einer psychischen Veränderung und<lb/>
diese ursachlich bestimmend; bewirkend, dass aus einer ge-<lb/>
gebenen inneren Lage eine andere wird. Man denkt den Ver-<lb/>
lauf des Geschehens vom gegebenen Anfang bis zu einem ge-<lb/>
dachten Endpunkt, wie in aller Verursachung, determiniert<lb/>
durch die Gesamtheit der Momente, die im Anfangspunkte<lb/>
dieses Geschehens gegeben waren. Der Gedanke des Zwecks<lb/>
ist hiervon seinem ganzen Inhalt nach verschieden. In ihm<lb/>
wird vielmehr der Endpunkt einer Veränderungsreihe gedacht<lb/>
als durch uns voraus in Freiheit bestimmt, und sodann rück-<lb/>
wärts bestimmend für die Reihe der Veränderungen, für den<lb/>
Weg, der vom gegebenen Anfangspunkt zu diesem gedachten<lb/>
Endpunkt zu beschreiben sei. Voraussetzung dazu ist aber,<lb/>
dass der gegebene Anfangspunkt, wenn auch etwa an sich,<lb/>
doch <hi rendition="#g">nicht für unser Denken</hi> die zureichenden Bestim-<lb/>
mungsgründe für den folgenden Verlauf enthalte. Das Problem<lb/>
des Sollens ist demnach präzis so zu stellen: Wodurch ist der<lb/>
Endpunkt bestimmt, was determiniert meinen Gedanken, das<lb/>
und das solle sein, gerade sofern er mir nicht determiniert ist<lb/>
durch meine Kenntnis oder Präsumtion eines ursachlichen Zu-<lb/>
sammenhanges, gemäss welchem der zweite Moment vom ersten<lb/>
aus voraus erkennbar wäre? Was determiniert meinen Gedan-<lb/>
ken, das heisst aber wiederum nicht: welche psychischen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35/0051] Natur als vollkommene Einheit; aber dieser Gedanke geht über die reine Thatsächlichkeit, und über die allein berechtigte Methode der Thatsachenforschung, die Erfahrung, ganz hin- aus. Es ist immer noch Natur, was man so denkt; aber es ist nicht mehr Naturerkenntnis, sondern bloss der ideale Ent- wurf einer Natur, wie sie in Vollständigkeit erkannt sein würde — wäre nur diese Vollständigkeit der Erkenntnis metho- disch erreichbar. Es kann also nicht glücken, Gesetze des Wollens in Natur- gesetzen zu gründen, Naturgesetzen der Lust und Unlust etwa, oder des Begehrens. Denn was man auch immer als Beweg- kraft des Willens ansetzen mag, den Lusttrieb, den Trieb überhaupt, oder was man sonst aufstelle, in jedem Falle denkt man diese Bewegkraft analog einem mechanischen Moment, gegeben im Anfangspunkt einer psychischen Veränderung und diese ursachlich bestimmend; bewirkend, dass aus einer ge- gebenen inneren Lage eine andere wird. Man denkt den Ver- lauf des Geschehens vom gegebenen Anfang bis zu einem ge- dachten Endpunkt, wie in aller Verursachung, determiniert durch die Gesamtheit der Momente, die im Anfangspunkte dieses Geschehens gegeben waren. Der Gedanke des Zwecks ist hiervon seinem ganzen Inhalt nach verschieden. In ihm wird vielmehr der Endpunkt einer Veränderungsreihe gedacht als durch uns voraus in Freiheit bestimmt, und sodann rück- wärts bestimmend für die Reihe der Veränderungen, für den Weg, der vom gegebenen Anfangspunkt zu diesem gedachten Endpunkt zu beschreiben sei. Voraussetzung dazu ist aber, dass der gegebene Anfangspunkt, wenn auch etwa an sich, doch nicht für unser Denken die zureichenden Bestim- mungsgründe für den folgenden Verlauf enthalte. Das Problem des Sollens ist demnach präzis so zu stellen: Wodurch ist der Endpunkt bestimmt, was determiniert meinen Gedanken, das und das solle sein, gerade sofern er mir nicht determiniert ist durch meine Kenntnis oder Präsumtion eines ursachlichen Zu- sammenhanges, gemäss welchem der zweite Moment vom ersten aus voraus erkennbar wäre? Was determiniert meinen Gedan- ken, das heisst aber wiederum nicht: welche psychischen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/51
Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/51>, abgerufen am 26.04.2024.