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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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eigene; dass er der Sache, die er zu der seinigen gemacht hat,
sich selbst und seine gegenwärtige oder absehbare Befriedigung
ohne Bedenken zum Opfer bringt; nicht indem er seine Per-
sönlichkeit wegwirft, zu nichte macht, sondern vielmehr sie
mit ganzer Kraft für die Sache einsetzt.

Man braucht dabei gar nicht an heroische Thaten zu
denken, wie sie von ausserordentlichen Menschen in ausser-
ordentlicher Lage vollbracht werden. Sehr hervorstechende
Beispiele bietet schon der gemeine Soldat, Lokomotivführer,
Feuerwehrmann u. s. w. Er wägt im kritischen Augenblick
nicht erst ab, was er einsetzt und was er etwa gewinnen kann,
wenn er seine Pflicht thut oder wenn nicht. Er riskiert im
einzelnen Fall vielleicht nicht einmal Ehrverlust oder Gewissens-
bisse, wenn er vorzieht nur sich selbst in Sicherheit zu bringen.
Dennoch wird man die grosse Ueberzahl ohne Wanken den
Weg der Pflicht gehen sehen; und man glaubt dabei mit allem
Recht, gar nichts mehr als seine "Schuldigkeit" zu thun. Es
gehört dazu in der That keine Heldennatur, sondern nur das
Geringe, dass man ein ehrlicher Kerl, d. h. ein Mensch von
leidlich gradwüchsigem Charakter ist. Derselbe Mensch unter-
liegt vielleicht einer viel weniger ernsten Versuchung, z. B.
zu Unwahrheit um vermeinten, geringfügigen Vorteils willen.
Es ist, wie mir scheint, ein starker thatsächlicher Irrtum vieler
Moralisten, dass dem Menschen das Leben und was es gemein-
hin bietet, sonderlich hoch im Preise stände. Auch die andre
Meinung irrt augenscheinlich, dass, wenn etwas, allein die
Angst vor Ehrverlust oder Gewissenspein über den Lebenstrieb
den Sieg behielte. Es genügt dazu vielmehr das Einzige: der
feste Glaube an eine Sache, und sei es die thörichtste, ja
schlechteste von der Welt. Der gemeine Ehrtrieb ist selbst
nur ein Beispiel davon; auch was man gewöhnlich nennt: sich
ein Gewissen aus etwas machen, ist nicht viel Anderes als die
oft sehr unbestimmte, schwach begründete Vorstellung von
etwas, das man unbedingt thun oder lassen und dagegen auch
den lebendigen eigenen Trieb (der vielleicht ganz im Recht
ist) bezwingen müsse. Die dabei leitende Einsicht mag einen
sehr beschränkten Horizont haben, die Konsequenz nur der

eigene; dass er der Sache, die er zu der seinigen gemacht hat,
sich selbst und seine gegenwärtige oder absehbare Befriedigung
ohne Bedenken zum Opfer bringt; nicht indem er seine Per-
sönlichkeit wegwirft, zu nichte macht, sondern vielmehr sie
mit ganzer Kraft für die Sache einsetzt.

Man braucht dabei gar nicht an heroische Thaten zu
denken, wie sie von ausserordentlichen Menschen in ausser-
ordentlicher Lage vollbracht werden. Sehr hervorstechende
Beispiele bietet schon der gemeine Soldat, Lokomotivführer,
Feuerwehrmann u. s. w. Er wägt im kritischen Augenblick
nicht erst ab, was er einsetzt und was er etwa gewinnen kann,
wenn er seine Pflicht thut oder wenn nicht. Er riskiert im
einzelnen Fall vielleicht nicht einmal Ehrverlust oder Gewissens-
bisse, wenn er vorzieht nur sich selbst in Sicherheit zu bringen.
Dennoch wird man die grosse Ueberzahl ohne Wanken den
Weg der Pflicht gehen sehen; und man glaubt dabei mit allem
Recht, gar nichts mehr als seine „Schuldigkeit“ zu thun. Es
gehört dazu in der That keine Heldennatur, sondern nur das
Geringe, dass man ein ehrlicher Kerl, d. h. ein Mensch von
leidlich gradwüchsigem Charakter ist. Derselbe Mensch unter-
liegt vielleicht einer viel weniger ernsten Versuchung, z. B.
zu Unwahrheit um vermeinten, geringfügigen Vorteils willen.
Es ist, wie mir scheint, ein starker thatsächlicher Irrtum vieler
Moralisten, dass dem Menschen das Leben und was es gemein-
hin bietet, sonderlich hoch im Preise stände. Auch die andre
Meinung irrt augenscheinlich, dass, wenn etwas, allein die
Angst vor Ehrverlust oder Gewissenspein über den Lebenstrieb
den Sieg behielte. Es genügt dazu vielmehr das Einzige: der
feste Glaube an eine Sache, und sei es die thörichtste, ja
schlechteste von der Welt. Der gemeine Ehrtrieb ist selbst
nur ein Beispiel davon; auch was man gewöhnlich nennt: sich
ein Gewissen aus etwas machen, ist nicht viel Anderes als die
oft sehr unbestimmte, schwach begründete Vorstellung von
etwas, das man unbedingt thun oder lassen und dagegen auch
den lebendigen eigenen Trieb (der vielleicht ganz im Recht
ist) bezwingen müsse. Die dabei leitende Einsicht mag einen
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[61/0077] eigene; dass er der Sache, die er zu der seinigen gemacht hat, sich selbst und seine gegenwärtige oder absehbare Befriedigung ohne Bedenken zum Opfer bringt; nicht indem er seine Per- sönlichkeit wegwirft, zu nichte macht, sondern vielmehr sie mit ganzer Kraft für die Sache einsetzt. Man braucht dabei gar nicht an heroische Thaten zu denken, wie sie von ausserordentlichen Menschen in ausser- ordentlicher Lage vollbracht werden. Sehr hervorstechende Beispiele bietet schon der gemeine Soldat, Lokomotivführer, Feuerwehrmann u. s. w. Er wägt im kritischen Augenblick nicht erst ab, was er einsetzt und was er etwa gewinnen kann, wenn er seine Pflicht thut oder wenn nicht. Er riskiert im einzelnen Fall vielleicht nicht einmal Ehrverlust oder Gewissens- bisse, wenn er vorzieht nur sich selbst in Sicherheit zu bringen. Dennoch wird man die grosse Ueberzahl ohne Wanken den Weg der Pflicht gehen sehen; und man glaubt dabei mit allem Recht, gar nichts mehr als seine „Schuldigkeit“ zu thun. Es gehört dazu in der That keine Heldennatur, sondern nur das Geringe, dass man ein ehrlicher Kerl, d. h. ein Mensch von leidlich gradwüchsigem Charakter ist. Derselbe Mensch unter- liegt vielleicht einer viel weniger ernsten Versuchung, z. B. zu Unwahrheit um vermeinten, geringfügigen Vorteils willen. Es ist, wie mir scheint, ein starker thatsächlicher Irrtum vieler Moralisten, dass dem Menschen das Leben und was es gemein- hin bietet, sonderlich hoch im Preise stände. Auch die andre Meinung irrt augenscheinlich, dass, wenn etwas, allein die Angst vor Ehrverlust oder Gewissenspein über den Lebenstrieb den Sieg behielte. Es genügt dazu vielmehr das Einzige: der feste Glaube an eine Sache, und sei es die thörichtste, ja schlechteste von der Welt. Der gemeine Ehrtrieb ist selbst nur ein Beispiel davon; auch was man gewöhnlich nennt: sich ein Gewissen aus etwas machen, ist nicht viel Anderes als die oft sehr unbestimmte, schwach begründete Vorstellung von etwas, das man unbedingt thun oder lassen und dagegen auch den lebendigen eigenen Trieb (der vielleicht ganz im Recht ist) bezwingen müsse. Die dabei leitende Einsicht mag einen sehr beschränkten Horizont haben, die Konsequenz nur der

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/77>, abgerufen am 29.04.2024.