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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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gründen der Gemeinschaft, sondern danach forschen wir, was
sie dem Bewusstsein inhaltlich bedeute.

Dem Individualbewusstsein als solchem ist Einzigkeit,
Sonderung von jedem andern wesentlich; es kann niemals in
ein andres gleichsam hinüberreichen oder auf irgend eine Weise
mit ihm eins werden. Aber, wer darauf ausschliesslich den
Blick geheftet hielte, würde nicht nur zum ethischen Egois-
mus, sondern notwendig zum theoretischen Solipsismus kommen.
Nun aber handelt es sich um das Bewusstsein seinem Inhalt
und der ihn erzeugenden Gesetzlichkeit nach. Diese
ist von Haus aus für alle eine und dieselbe. Folglich giebt
es keinen reinen, d. i. gesetzmässig erzeugten Inhalt des Be-
wusstseins, der des Einzelnen ausschliessendes Eigentum wäre:
Also: aller echte Bildungsinhalt ist an sich Gemeingut. Es
ist ein gründlicher Irrtum, man möchte es eine Art Sinnes-
täuschung nennen, wenn man irgend einen geistigen Besitz
sich als ausschliessliches Eigentum zurechnet. Der ego-
zentrische Standpunkt der Kosmologie, welcher die unendlichen
Welten um den Beschauer sich drehen lässt, der seinen zu-
fälligen Standort zur absoluten Grundlage seines Urteils macht,
ist nicht naiver oder irrtümlicher als jener egozentrische Stand-
punkt der Bildung, der heute von so manchem als tiefe und
wohl gar neue Philosophie angestaunt wird. So sicher der
äussere Kosmos in seinem Aufbau und dem Wechsel seiner
Erscheinungen einem Gesetze folgt, das nach keinem zufälligen
Standpunkt des Beobachters fragt, so sicher unterliegt der Auf-
bau und die aufsteigende Entwicklung der inneren Welten
der Erkenntnis, der Sittlichkeit und selbst der Kunstgestaltung
Gesetzen, die unterschiedslos dieselben für alle sind. Und
wenn es je ein eigener Ausschnitt aus diesen Welten ist, der
dem Einzelnen sichtbar wird, so besteht die Eigenheit seiner
individuellen Ansicht, analog der Eigenheit des Bildes, das
ein jeder seinem Standort gemäss vom Universum erhält, nur
in einer Einschränkung des unermesslichen Inhalts der mensch-
lichen Bildung, der, an sich derselbe, für alle zur Aneignung
gleichsam bereit steht, und auf den alle solche "zufälligen
Ansichten" sich wesentlich und unerlässlich zurückbeziehen.

gründen der Gemeinschaft, sondern danach forschen wir, was
sie dem Bewusstsein inhaltlich bedeute.

Dem Individualbewusstsein als solchem ist Einzigkeit,
Sonderung von jedem andern wesentlich; es kann niemals in
ein andres gleichsam hinüberreichen oder auf irgend eine Weise
mit ihm eins werden. Aber, wer darauf ausschliesslich den
Blick geheftet hielte, würde nicht nur zum ethischen Egois-
mus, sondern notwendig zum theoretischen Solipsismus kommen.
Nun aber handelt es sich um das Bewusstsein seinem Inhalt
und der ihn erzeugenden Gesetzlichkeit nach. Diese
ist von Haus aus für alle eine und dieselbe. Folglich giebt
es keinen reinen, d. i. gesetzmässig erzeugten Inhalt des Be-
wusstseins, der des Einzelnen ausschliessendes Eigentum wäre:
Also: aller echte Bildungsinhalt ist an sich Gemeingut. Es
ist ein gründlicher Irrtum, man möchte es eine Art Sinnes-
täuschung nennen, wenn man irgend einen geistigen Besitz
sich als ausschliessliches Eigentum zurechnet. Der ego-
zentrische Standpunkt der Kosmologie, welcher die unendlichen
Welten um den Beschauer sich drehen lässt, der seinen zu-
fälligen Standort zur absoluten Grundlage seines Urteils macht,
ist nicht naiver oder irrtümlicher als jener egozentrische Stand-
punkt der Bildung, der heute von so manchem als tiefe und
wohl gar neue Philosophie angestaunt wird. So sicher der
äussere Kosmos in seinem Aufbau und dem Wechsel seiner
Erscheinungen einem Gesetze folgt, das nach keinem zufälligen
Standpunkt des Beobachters fragt, so sicher unterliegt der Auf-
bau und die aufsteigende Entwicklung der inneren Welten
der Erkenntnis, der Sittlichkeit und selbst der Kunstgestaltung
Gesetzen, die unterschiedslos dieselben für alle sind. Und
wenn es je ein eigener Ausschnitt aus diesen Welten ist, der
dem Einzelnen sichtbar wird, so besteht die Eigenheit seiner
individuellen Ansicht, analog der Eigenheit des Bildes, das
ein jeder seinem Standort gemäss vom Universum erhält, nur
in einer Einschränkung des unermesslichen Inhalts der mensch-
lichen Bildung, der, an sich derselbe, für alle zur Aneignung
gleichsam bereit steht, und auf den alle solche „zufälligen
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[70/0086] gründen der Gemeinschaft, sondern danach forschen wir, was sie dem Bewusstsein inhaltlich bedeute. Dem Individualbewusstsein als solchem ist Einzigkeit, Sonderung von jedem andern wesentlich; es kann niemals in ein andres gleichsam hinüberreichen oder auf irgend eine Weise mit ihm eins werden. Aber, wer darauf ausschliesslich den Blick geheftet hielte, würde nicht nur zum ethischen Egois- mus, sondern notwendig zum theoretischen Solipsismus kommen. Nun aber handelt es sich um das Bewusstsein seinem Inhalt und der ihn erzeugenden Gesetzlichkeit nach. Diese ist von Haus aus für alle eine und dieselbe. Folglich giebt es keinen reinen, d. i. gesetzmässig erzeugten Inhalt des Be- wusstseins, der des Einzelnen ausschliessendes Eigentum wäre: Also: aller echte Bildungsinhalt ist an sich Gemeingut. Es ist ein gründlicher Irrtum, man möchte es eine Art Sinnes- täuschung nennen, wenn man irgend einen geistigen Besitz sich als ausschliessliches Eigentum zurechnet. Der ego- zentrische Standpunkt der Kosmologie, welcher die unendlichen Welten um den Beschauer sich drehen lässt, der seinen zu- fälligen Standort zur absoluten Grundlage seines Urteils macht, ist nicht naiver oder irrtümlicher als jener egozentrische Stand- punkt der Bildung, der heute von so manchem als tiefe und wohl gar neue Philosophie angestaunt wird. So sicher der äussere Kosmos in seinem Aufbau und dem Wechsel seiner Erscheinungen einem Gesetze folgt, das nach keinem zufälligen Standpunkt des Beobachters fragt, so sicher unterliegt der Auf- bau und die aufsteigende Entwicklung der inneren Welten der Erkenntnis, der Sittlichkeit und selbst der Kunstgestaltung Gesetzen, die unterschiedslos dieselben für alle sind. Und wenn es je ein eigener Ausschnitt aus diesen Welten ist, der dem Einzelnen sichtbar wird, so besteht die Eigenheit seiner individuellen Ansicht, analog der Eigenheit des Bildes, das ein jeder seinem Standort gemäss vom Universum erhält, nur in einer Einschränkung des unermesslichen Inhalts der mensch- lichen Bildung, der, an sich derselbe, für alle zur Aneignung gleichsam bereit steht, und auf den alle solche „zufälligen Ansichten“ sich wesentlich und unerlässlich zurückbeziehen.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/86>, abgerufen am 29.04.2024.