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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775.

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"gleich arm, hatte ich doch mein Auskommen. Jch
"arbeitete, nebst meiner Frau, fleißig; und meine Toch-
"ter -- o mein einziges Kind! Sie war nie ihren
"Aeltern ungehorfam gewesen, sie hatte uns nie
"den geringsten Verdruß gemacht, sie übertraf uns
"an Fleiß, sie machte uns mit ihrer künstlichen Arbeit
"Vergnügen; wenn wir Aeltern nur gerade die Noth-
"durft erwerben konnten, so verschaffte uns ihr Fleiß
"zuweilen einen festlichen Tag. Sie war mein Aug-
"apfel, ich wor mehr als glücklich, als der heuchleri-
"sche Bösewicht, den sie haben aus der Thüre rennen
"sehen, meine ganze Glückseligkeit, die ich auf Erden
"habe, zerstörte. Er setzte sich in der St. Gertrauts-
"kirche oft neben mir, wo er auch wohl zuerst meine
"Tochter mag gesehen haben. Er suchte meine Bekannt-
"schaft, indem er zwey arme Knaben in meine Schule
"brachte, für die, wie er sagte, gottselige Leute das
"Schulgeld bezahlen wollten. Er sah und lobte mei-
"ner Tochter Arbeit, er brachte in kurzem einen Men-
"schen mit, der feiue ausgenähte Arbeit bestellte, und
"reichlich bezahlte. Dieß war, wie ich hernach er-
"fahren habe, der Kammerdiener des wollüstigen
"Müßiggängers, der in diesem Hause wohnt, ein
"undeutscher Kerl, ohne Redlichkeit, ohne Menschen-
"gefühl, den das Wimmern der zu Grunde gerichte-

"ten



”gleich arm, hatte ich doch mein Auskommen. Jch
”arbeitete, nebſt meiner Frau, fleißig; und meine Toch-
”ter — o mein einziges Kind! Sie war nie ihren
”Aeltern ungehorfam geweſen, ſie hatte uns nie
”den geringſten Verdruß gemacht, ſie uͤbertraf uns
”an Fleiß, ſie machte uns mit ihrer kuͤnſtlichen Arbeit
”Vergnuͤgen; wenn wir Aeltern nur gerade die Noth-
”durft erwerben konnten, ſo verſchaffte uns ihr Fleiß
”zuweilen einen feſtlichen Tag. Sie war mein Aug-
”apfel, ich wor mehr als gluͤcklich, als der heuchleri-
”ſche Boͤſewicht, den ſie haben aus der Thuͤre rennen
”ſehen, meine ganze Gluͤckſeligkeit, die ich auf Erden
”habe, zerſtoͤrte. Er ſetzte ſich in der St. Gertrauts-
”kirche oft neben mir, wo er auch wohl zuerſt meine
”Tochter mag geſehen haben. Er ſuchte meine Bekannt-
”ſchaft, indem er zwey arme Knaben in meine Schule
”brachte, fuͤr die, wie er ſagte, gottſelige Leute das
”Schulgeld bezahlen wollten. Er ſah und lobte mei-
”ner Tochter Arbeit, er brachte in kurzem einen Men-
”ſchen mit, der feiue ausgenaͤhte Arbeit beſtellte, und
”reichlich bezahlte. Dieß war, wie ich hernach er-
”fahren habe, der Kammerdiener des wolluͤſtigen
”Muͤßiggaͤngers, der in dieſem Hauſe wohnt, ein
”undeutſcher Kerl, ohne Redlichkeit, ohne Menſchen-
”gefuͤhl, den das Wimmern der zu Grunde gerichte-

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[102/0110] ”gleich arm, hatte ich doch mein Auskommen. Jch ”arbeitete, nebſt meiner Frau, fleißig; und meine Toch- ”ter — o mein einziges Kind! Sie war nie ihren ”Aeltern ungehorfam geweſen, ſie hatte uns nie ”den geringſten Verdruß gemacht, ſie uͤbertraf uns ”an Fleiß, ſie machte uns mit ihrer kuͤnſtlichen Arbeit ”Vergnuͤgen; wenn wir Aeltern nur gerade die Noth- ”durft erwerben konnten, ſo verſchaffte uns ihr Fleiß ”zuweilen einen feſtlichen Tag. Sie war mein Aug- ”apfel, ich wor mehr als gluͤcklich, als der heuchleri- ”ſche Boͤſewicht, den ſie haben aus der Thuͤre rennen ”ſehen, meine ganze Gluͤckſeligkeit, die ich auf Erden ”habe, zerſtoͤrte. Er ſetzte ſich in der St. Gertrauts- ”kirche oft neben mir, wo er auch wohl zuerſt meine ”Tochter mag geſehen haben. Er ſuchte meine Bekannt- ”ſchaft, indem er zwey arme Knaben in meine Schule ”brachte, fuͤr die, wie er ſagte, gottſelige Leute das ”Schulgeld bezahlen wollten. Er ſah und lobte mei- ”ner Tochter Arbeit, er brachte in kurzem einen Men- ”ſchen mit, der feiue ausgenaͤhte Arbeit beſtellte, und ”reichlich bezahlte. Dieß war, wie ich hernach er- ”fahren habe, der Kammerdiener des wolluͤſtigen ”Muͤßiggaͤngers, der in dieſem Hauſe wohnt, ein ”undeutſcher Kerl, ohne Redlichkeit, ohne Menſchen- ”gefuͤhl, den das Wimmern der zu Grunde gerichte- ”ten

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Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/110>, abgerufen am 29.04.2024.