Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 3. Berlin u. a., 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



"doch deshalb keiner von den neun und dreißigen
"weniger.'



,Die Schriftgelehrten haben von je her ihre Lehr-
"gebäude so künstlich angelegt, daß jeder das seine,
"trotz aller Widerlegung, beweisen kann. Sie glei-
"chen Bergschlössern, die noch dazu mit hohen Wäl-
"len und tiefen Graben umgeben sind, so daß derje-
"nige, der darinn ist, sich ewig vertheldigen, und
"der, der draußen ist, sie nimmer mit Vortheile an-
"greifen kann. Aber wie? Wenn wir diese Vestun-
"gen, die uns eigentlich nichts hindern, liegen lies-
"sen, und mit der gesunden Vernunft geradezu ins
"Land drängen? Die Priester hatten bis ins sechs-
"zehnte Jahrhundert ihr System in gar künstliche
"dialektische Schlingen verwickelt. Luther ließ sie,
"und gieng gerade auf die Bibel, die er allen, die le-
"sen konnten, in der Landessprache in die Hände gab.
"Die fleißige Lesung dieses Buchs erwärmte das Herz,
"und erleuchtete den Verstand, indem sie das Nach-
"denken
beförderte. Wollen wir auf einem gleichen
"Wege nicht weiter fortgehen?'



,Man setzet immer die Vernunft der Offenba-
"rung
entgegen. Dieß mag der nöthig finden, der

"an



„doch deshalb keiner von den neun und dreißigen
„weniger.‛



‚Die Schriftgelehrten haben von je her ihre Lehr-
„gebaͤude ſo kuͤnſtlich angelegt, daß jeder das ſeine,
„trotz aller Widerlegung, beweiſen kann. Sie glei-
„chen Bergſchloͤſſern, die noch dazu mit hohen Waͤl-
„len und tiefen Graben umgeben ſind, ſo daß derje-
„nige, der darinn iſt, ſich ewig vertheldigen, und
„der, der draußen iſt, ſie nimmer mit Vortheile an-
„greifen kann. Aber wie? Wenn wir dieſe Veſtun-
„gen, die uns eigentlich nichts hindern, liegen lieſ-
„ſen, und mit der geſunden Vernunft geradezu ins
„Land draͤngen? Die Prieſter hatten bis ins ſechs-
„zehnte Jahrhundert ihr Syſtem in gar kuͤnſtliche
„dialektiſche Schlingen verwickelt. Luther ließ ſie,
„und gieng gerade auf die Bibel, die er allen, die le-
„ſen konnten, in der Landesſprache in die Haͤnde gab.
„Die fleißige Leſung dieſes Buchs erwaͤrmte das Herz,
„und erleuchtete den Verſtand, indem ſie das Nach-
„denken
befoͤrderte. Wollen wir auf einem gleichen
„Wege nicht weiter fortgehen?‛



‚Man ſetzet immer die Vernunft der Offenba-
„rung
entgegen. Dieß mag der noͤthig finden, der

„an
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0067" n="59[58]"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x201E;doch deshalb keiner von den <hi rendition="#fr">neun und dreißigen</hi><lb/>
&#x201E;weniger.&#x201B;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>&#x201A;Die Schriftgelehrten haben von je her ihre Lehr-<lb/>
&#x201E;geba&#x0364;ude &#x017F;o ku&#x0364;n&#x017F;tlich angelegt, daß jeder das &#x017F;eine,<lb/>
&#x201E;trotz aller Widerlegung, bewei&#x017F;en kann. Sie glei-<lb/>
&#x201E;chen Berg&#x017F;chlo&#x0364;&#x017F;&#x017F;ern, die noch dazu mit hohen Wa&#x0364;l-<lb/>
&#x201E;len und tiefen Graben umgeben &#x017F;ind, &#x017F;o daß derje-<lb/>
&#x201E;nige, der darinn i&#x017F;t, &#x017F;ich ewig vertheldigen, und<lb/>
&#x201E;der, der draußen i&#x017F;t, &#x017F;ie nimmer mit Vortheile an-<lb/>
&#x201E;greifen kann. Aber wie? Wenn wir die&#x017F;e Ve&#x017F;tun-<lb/>
&#x201E;gen, die uns eigentlich nichts hindern, liegen lie&#x017F;-<lb/>
&#x201E;&#x017F;en, und mit der ge&#x017F;unden Vernunft geradezu ins<lb/>
&#x201E;Land dra&#x0364;ngen? Die Prie&#x017F;ter hatten bis ins &#x017F;echs-<lb/>
&#x201E;zehnte Jahrhundert ihr Sy&#x017F;tem in gar ku&#x0364;n&#x017F;tliche<lb/>
&#x201E;dialekti&#x017F;che Schlingen verwickelt. <hi rendition="#fr">Luther</hi> ließ &#x017F;ie,<lb/>
&#x201E;und gieng gerade auf die Bibel, die er allen, die le-<lb/>
&#x201E;&#x017F;en konnten, in der Landes&#x017F;prache in die Ha&#x0364;nde gab.<lb/>
&#x201E;Die fleißige Le&#x017F;ung die&#x017F;es Buchs erwa&#x0364;rmte das Herz,<lb/>
&#x201E;und erleuchtete den Ver&#x017F;tand, indem &#x017F;ie das <hi rendition="#fr">Nach-<lb/>
&#x201E;denken</hi> befo&#x0364;rderte. Wollen wir auf einem gleichen<lb/>
&#x201E;Wege nicht weiter fortgehen?&#x201B;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>&#x201A;Man &#x017F;etzet immer die <hi rendition="#fr">Vernunft der Offenba-<lb/>
&#x201E;rung</hi> entgegen. Dieß mag der no&#x0364;thig finden, der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;an</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[59[58]/0067] „doch deshalb keiner von den neun und dreißigen „weniger.‛ ‚Die Schriftgelehrten haben von je her ihre Lehr- „gebaͤude ſo kuͤnſtlich angelegt, daß jeder das ſeine, „trotz aller Widerlegung, beweiſen kann. Sie glei- „chen Bergſchloͤſſern, die noch dazu mit hohen Waͤl- „len und tiefen Graben umgeben ſind, ſo daß derje- „nige, der darinn iſt, ſich ewig vertheldigen, und „der, der draußen iſt, ſie nimmer mit Vortheile an- „greifen kann. Aber wie? Wenn wir dieſe Veſtun- „gen, die uns eigentlich nichts hindern, liegen lieſ- „ſen, und mit der geſunden Vernunft geradezu ins „Land draͤngen? Die Prieſter hatten bis ins ſechs- „zehnte Jahrhundert ihr Syſtem in gar kuͤnſtliche „dialektiſche Schlingen verwickelt. Luther ließ ſie, „und gieng gerade auf die Bibel, die er allen, die le- „ſen konnten, in der Landesſprache in die Haͤnde gab. „Die fleißige Leſung dieſes Buchs erwaͤrmte das Herz, „und erleuchtete den Verſtand, indem ſie das Nach- „denken befoͤrderte. Wollen wir auf einem gleichen „Wege nicht weiter fortgehen?‛ ‚Man ſetzet immer die Vernunft der Offenba- „rung entgegen. Dieß mag der noͤthig finden, der „an

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776/67
Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 3. Berlin u. a., 1776, S. 59[58]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776/67>, abgerufen am 27.04.2024.