Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

die im Keim erstickt sind, ist eitel; und so wollen wir
nicht trauern, daß allen manches unersetzte und uner-
setzliche Gut verlohren ging; nicht fragen, ob der
reichste Ersatz den die Nachkommen genossen haben
mögen, die Leiden zertretener Geschlechter vergüten
kann? Wir wenden wenigstens von jenen Zeiten unser
Auge nicht so trübe und zweifelnd, als von den Schick-
salen des verheerten und verödeten Asiens, dessen schön-
sten Ländern, selbst dem Leben der Natur entzogen
und jährlich mehr absterbend, selbst die Möglichkeit
blühenderer Zeiten versagt, wo das Grab Schluß der
Geschichte ist.

Von unsrer Deutschen Nation aber, so viele ihrer
Stämme die Heimath nicht verließen, wenigstens nicht
unter besiegten Romanischen wohnend verfremdet wur-
den, dürfen wir behaupten, daß sie für den Kampf
den sie Jahrhunderte lang gegen Rom bestand, spä-
terhin durch die Vortheile mehr als belohnt worden
ist, welche aus der Welteinheit unter Rom entstanden;
und daß ohne diese, und die Früchte welche in ihr reif-
ten, wir schwerlich aufgehört haben würden Barbaren zu
seyn. Nicht die Formen welche unsre Vorfahren bey
der Ausbreitung der Litteratur von dort und vom clas-
sischen Boden sich aneigneten, haben ihre ehrwürdige
und unersetzliche Eigenthümlichkeit verdrängt; sie wa-
ren mit ihr verträglich: aber erborgte, erkünstelte,
geistlose, wälsche Formen, Geschmack und Ideen, wie
sich deren schon früher bey uns zum Verderben der

Erster Theil. B

die im Keim erſtickt ſind, iſt eitel; und ſo wollen wir
nicht trauern, daß allen manches unerſetzte und uner-
ſetzliche Gut verlohren ging; nicht fragen, ob der
reichſte Erſatz den die Nachkommen genoſſen haben
moͤgen, die Leiden zertretener Geſchlechter verguͤten
kann? Wir wenden wenigſtens von jenen Zeiten unſer
Auge nicht ſo truͤbe und zweifelnd, als von den Schick-
ſalen des verheerten und veroͤdeten Aſiens, deſſen ſchoͤn-
ſten Laͤndern, ſelbſt dem Leben der Natur entzogen
und jaͤhrlich mehr abſterbend, ſelbſt die Moͤglichkeit
bluͤhenderer Zeiten verſagt, wo das Grab Schluß der
Geſchichte iſt.

Von unſrer Deutſchen Nation aber, ſo viele ihrer
Staͤmme die Heimath nicht verließen, wenigſtens nicht
unter beſiegten Romaniſchen wohnend verfremdet wur-
den, duͤrfen wir behaupten, daß ſie fuͤr den Kampf
den ſie Jahrhunderte lang gegen Rom beſtand, ſpaͤ-
terhin durch die Vortheile mehr als belohnt worden
iſt, welche aus der Welteinheit unter Rom entſtanden;
und daß ohne dieſe, und die Fruͤchte welche in ihr reif-
ten, wir ſchwerlich aufgehoͤrt haben wuͤrden Barbaren zu
ſeyn. Nicht die Formen welche unſre Vorfahren bey
der Ausbreitung der Litteratur von dort und vom claſ-
ſiſchen Boden ſich aneigneten, haben ihre ehrwuͤrdige
und unerſetzliche Eigenthuͤmlichkeit verdraͤngt; ſie wa-
ren mit ihr vertraͤglich: aber erborgte, erkuͤnſtelte,
geiſtloſe, waͤlſche Formen, Geſchmack und Ideen, wie
ſich deren ſchon fruͤher bey uns zum Verderben der

Erſter Theil. B
<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0039" n="17"/>
die im Keim er&#x017F;tickt &#x017F;ind, i&#x017F;t eitel; und &#x017F;o wollen wir<lb/>
nicht trauern, daß allen manches uner&#x017F;etzte und uner-<lb/>
&#x017F;etzliche Gut verlohren ging; nicht fragen, ob der<lb/>
reich&#x017F;te Er&#x017F;atz den die Nachkommen geno&#x017F;&#x017F;en haben<lb/>
mo&#x0364;gen, die Leiden zertretener Ge&#x017F;chlechter vergu&#x0364;ten<lb/>
kann? Wir wenden wenig&#x017F;tens von jenen Zeiten un&#x017F;er<lb/>
Auge nicht &#x017F;o tru&#x0364;be und zweifelnd, als von den Schick-<lb/>
&#x017F;alen des verheerten und vero&#x0364;deten A&#x017F;iens, de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;cho&#x0364;n-<lb/>
&#x017F;ten La&#x0364;ndern, &#x017F;elb&#x017F;t dem Leben der Natur entzogen<lb/>
und ja&#x0364;hrlich mehr ab&#x017F;terbend, &#x017F;elb&#x017F;t die Mo&#x0364;glichkeit<lb/>
blu&#x0364;henderer Zeiten ver&#x017F;agt, wo das Grab Schluß der<lb/>
Ge&#x017F;chichte i&#x017F;t.</p><lb/>
      <p>Von un&#x017F;rer Deut&#x017F;chen Nation aber, &#x017F;o viele ihrer<lb/>
Sta&#x0364;mme die Heimath nicht verließen, wenig&#x017F;tens nicht<lb/>
unter be&#x017F;iegten Romani&#x017F;chen wohnend verfremdet wur-<lb/>
den, du&#x0364;rfen wir behaupten, daß &#x017F;ie fu&#x0364;r den Kampf<lb/>
den &#x017F;ie Jahrhunderte lang gegen Rom be&#x017F;tand, &#x017F;pa&#x0364;-<lb/>
terhin durch die Vortheile mehr als belohnt worden<lb/>
i&#x017F;t, welche aus der Welteinheit unter Rom ent&#x017F;tanden;<lb/>
und daß ohne die&#x017F;e, und die Fru&#x0364;chte welche in ihr reif-<lb/>
ten, wir &#x017F;chwerlich aufgeho&#x0364;rt haben wu&#x0364;rden Barbaren zu<lb/>
&#x017F;eyn. Nicht die Formen welche un&#x017F;re Vorfahren bey<lb/>
der Ausbreitung der Litteratur von dort und vom cla&#x017F;-<lb/>
&#x017F;i&#x017F;chen Boden &#x017F;ich aneigneten, haben ihre ehrwu&#x0364;rdige<lb/>
und uner&#x017F;etzliche Eigenthu&#x0364;mlichkeit verdra&#x0364;ngt; <hi rendition="#g">&#x017F;ie</hi> wa-<lb/>
ren mit ihr vertra&#x0364;glich: aber erborgte, erku&#x0364;n&#x017F;telte,<lb/>
gei&#x017F;tlo&#x017F;e, wa&#x0364;l&#x017F;che Formen, Ge&#x017F;chmack und Ideen, wie<lb/>
&#x017F;ich deren &#x017F;chon fru&#x0364;her bey uns zum Verderben der<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Er&#x017F;ter Theil. B</fw><lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0039] die im Keim erſtickt ſind, iſt eitel; und ſo wollen wir nicht trauern, daß allen manches unerſetzte und uner- ſetzliche Gut verlohren ging; nicht fragen, ob der reichſte Erſatz den die Nachkommen genoſſen haben moͤgen, die Leiden zertretener Geſchlechter verguͤten kann? Wir wenden wenigſtens von jenen Zeiten unſer Auge nicht ſo truͤbe und zweifelnd, als von den Schick- ſalen des verheerten und veroͤdeten Aſiens, deſſen ſchoͤn- ſten Laͤndern, ſelbſt dem Leben der Natur entzogen und jaͤhrlich mehr abſterbend, ſelbſt die Moͤglichkeit bluͤhenderer Zeiten verſagt, wo das Grab Schluß der Geſchichte iſt. Von unſrer Deutſchen Nation aber, ſo viele ihrer Staͤmme die Heimath nicht verließen, wenigſtens nicht unter beſiegten Romaniſchen wohnend verfremdet wur- den, duͤrfen wir behaupten, daß ſie fuͤr den Kampf den ſie Jahrhunderte lang gegen Rom beſtand, ſpaͤ- terhin durch die Vortheile mehr als belohnt worden iſt, welche aus der Welteinheit unter Rom entſtanden; und daß ohne dieſe, und die Fruͤchte welche in ihr reif- ten, wir ſchwerlich aufgehoͤrt haben wuͤrden Barbaren zu ſeyn. Nicht die Formen welche unſre Vorfahren bey der Ausbreitung der Litteratur von dort und vom claſ- ſiſchen Boden ſich aneigneten, haben ihre ehrwuͤrdige und unerſetzliche Eigenthuͤmlichkeit verdraͤngt; ſie wa- ren mit ihr vertraͤglich: aber erborgte, erkuͤnſtelte, geiſtloſe, waͤlſche Formen, Geſchmack und Ideen, wie ſich deren ſchon fruͤher bey uns zum Verderben der Erſter Theil. B

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/39
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/39>, abgerufen am 27.04.2024.