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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

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Zweiter Abschnitt.
Anstalten, und eine daraus entspringende Geringschätzung
dessen, was sie thun und leisten, hätte ein solcher Vor-
schlag, seiner soliden Vortheilhaftigkeit unerachtet, doch
nimmermehr gemacht werden können. Wie könnte et-
was so Frivoles vorgeschlagen werden, wenn die hohe
Wichtigkeit jener Anstalten erkannt und ihre ehrwürdige
Bestimmung geachtet wäre?

Daran also ist hier zu erinnern: daß die Er-
ziehung
die Erweckung und Bildung der Ver-
nunft
in dem Kinde sey; daß die Periode der Kind-
heit dies nicht nur vor allem andern bedürfe, sondern
sogar unbedingt fordere; daß, diese Forderung vernach-
lässigen, die Grundpflicht der Erziehung versäumen,
und dagegen, willkürlich eine andre Forderung an
die Stelle von jener setzen, die älterliche Vollmacht
überschreiten und das Recht des Kindes verletzen heiße.
Woher erhielte doch (wenn wir nicht den Gesetzen der
Barbarei noch Kraft und Gültigkeit einräumen wol-
len?) der Vater ein Recht, die Erziehung seines Kin-
des nach Willkür zu behandeln? Hat überhaupt sein
Recht, es zu erziehen, einen andern Grund, als sei-
ne -- in dem allgemeinen Gesetze der Fortpflanzung
der Vernunft gegründete -- Pflicht, es zum Men-
schen d. i. zur Vernunft
zu erziehen, weil Ver-
nunft nur durch Vernunft gebildet wird, und es sich
mithin nicht selbst zur Vernunft bilden kann? Wie darf
der Vater, diesem allgemeinen Vernunftgesetz entgegen,
jene Bestimmung willkürlich ändern?


Zweiter Abſchnitt.
Anſtalten, und eine daraus entſpringende Geringſchaͤtzung
deſſen, was ſie thun und leiſten, haͤtte ein ſolcher Vor-
ſchlag, ſeiner ſoliden Vortheilhaftigkeit unerachtet, doch
nimmermehr gemacht werden koͤnnen. Wie koͤnnte et-
was ſo Frivoles vorgeſchlagen werden, wenn die hohe
Wichtigkeit jener Anſtalten erkannt und ihre ehrwuͤrdige
Beſtimmung geachtet waͤre?

Daran alſo iſt hier zu erinnern: daß die Er-
ziehung
die Erweckung und Bildung der Ver-
nunft
in dem Kinde ſey; daß die Periode der Kind-
heit dies nicht nur vor allem andern beduͤrfe, ſondern
ſogar unbedingt fordere; daß, dieſe Forderung vernach-
laͤſſigen, die Grundpflicht der Erziehung verſaͤumen,
und dagegen, willkuͤrlich eine andre Forderung an
die Stelle von jener ſetzen, die aͤlterliche Vollmacht
uͤberſchreiten und das Recht des Kindes verletzen heiße.
Woher erhielte doch (wenn wir nicht den Geſetzen der
Barbarei noch Kraft und Guͤltigkeit einraͤumen wol-
len?) der Vater ein Recht, die Erziehung ſeines Kin-
des nach Willkuͤr zu behandeln? Hat uͤberhaupt ſein
Recht, es zu erziehen, einen andern Grund, als ſei-
ne — in dem allgemeinen Geſetze der Fortpflanzung
der Vernunft gegruͤndete — Pflicht, es zum Men-
ſchen d. i. zur Vernunft
zu erziehen, weil Ver-
nunft nur durch Vernunft gebildet wird, und es ſich
mithin nicht ſelbſt zur Vernunft bilden kann? Wie darf
der Vater, dieſem allgemeinen Vernunftgeſetz entgegen,
jene Beſtimmung willkuͤrlich aͤndern?


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[62/0074] Zweiter Abſchnitt. Anſtalten, und eine daraus entſpringende Geringſchaͤtzung deſſen, was ſie thun und leiſten, haͤtte ein ſolcher Vor- ſchlag, ſeiner ſoliden Vortheilhaftigkeit unerachtet, doch nimmermehr gemacht werden koͤnnen. Wie koͤnnte et- was ſo Frivoles vorgeſchlagen werden, wenn die hohe Wichtigkeit jener Anſtalten erkannt und ihre ehrwuͤrdige Beſtimmung geachtet waͤre? Daran alſo iſt hier zu erinnern: daß die Er- ziehung die Erweckung und Bildung der Ver- nunft in dem Kinde ſey; daß die Periode der Kind- heit dies nicht nur vor allem andern beduͤrfe, ſondern ſogar unbedingt fordere; daß, dieſe Forderung vernach- laͤſſigen, die Grundpflicht der Erziehung verſaͤumen, und dagegen, willkuͤrlich eine andre Forderung an die Stelle von jener ſetzen, die aͤlterliche Vollmacht uͤberſchreiten und das Recht des Kindes verletzen heiße. Woher erhielte doch (wenn wir nicht den Geſetzen der Barbarei noch Kraft und Guͤltigkeit einraͤumen wol- len?) der Vater ein Recht, die Erziehung ſeines Kin- des nach Willkuͤr zu behandeln? Hat uͤberhaupt ſein Recht, es zu erziehen, einen andern Grund, als ſei- ne — in dem allgemeinen Geſetze der Fortpflanzung der Vernunft gegruͤndete — Pflicht, es zum Men- ſchen d. i. zur Vernunft zu erziehen, weil Ver- nunft nur durch Vernunft gebildet wird, und es ſich mithin nicht ſelbſt zur Vernunft bilden kann? Wie darf der Vater, dieſem allgemeinen Vernunftgeſetz entgegen, jene Beſtimmung willkuͤrlich aͤndern?

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Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/74>, abgerufen am 27.04.2024.