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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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haupt befähigt ist, den Mythus, das zusammengezogene Welt¬
bild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der Erscheinung,
das Wunder nicht entbehren kann. Das Wahrscheinliche ist
aber, dass fast Jeder, bei strenger Prüfung, sich so durch
den kritisch-historischen Geist unserer Bildung zersetzt fühlt,
um nur etwa auf gelehrtem Wege, durch vermittelnde Ab¬
stractionen, sich die einstmalige Existenz des Mythus glaub¬
lich zu machen. Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer
gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit
Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Cultur¬
bewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und
des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus
aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet. Die Bilder
des Mythus müssen die unbemerkt allgegenwärtigen dämo¬
nischen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele
heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben
und seine Kämpfe deutet: und selbst der Staat kennt keine
mächtigeren ungeschriebnen Gesetze als das mythische Funda¬
ment, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Her¬
auswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt.

Man stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen ge¬
leiteten Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte,
das abstracte Recht, den abstracten Staat: man vergegenwärtige
sich das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelte
Schweifen der künstlerischen Phantasie: man denke sich eine
Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle
Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmer¬
lich zu nähren verurtheilt ist -- das ist die Gegenwart, als das
Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten So¬
kratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig
hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und
wühlend nach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegensten
Alterthümern nach ihnen graben müsste. Worauf weist das un¬

haupt befähigt ist, den Mythus, das zusammengezogene Welt¬
bild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der Erscheinung,
das Wunder nicht entbehren kann. Das Wahrscheinliche ist
aber, dass fast Jeder, bei strenger Prüfung, sich so durch
den kritisch-historischen Geist unserer Bildung zersetzt fühlt,
um nur etwa auf gelehrtem Wege, durch vermittelnde Ab¬
stractionen, sich die einstmalige Existenz des Mythus glaub¬
lich zu machen. Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer
gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit
Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Cultur¬
bewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und
des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus
aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet. Die Bilder
des Mythus müssen die unbemerkt allgegenwärtigen dämo¬
nischen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele
heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben
und seine Kämpfe deutet: und selbst der Staat kennt keine
mächtigeren ungeschriebnen Gesetze als das mythische Funda¬
ment, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Her¬
auswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt.

Man stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen ge¬
leiteten Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte,
das abstracte Recht, den abstracten Staat: man vergegenwärtige
sich das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelte
Schweifen der künstlerischen Phantasie: man denke sich eine
Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle
Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmer¬
lich zu nähren verurtheilt ist — das ist die Gegenwart, als das
Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten So¬
kratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig
hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und
wühlend nach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegensten
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[—132—/0145] haupt befähigt ist, den Mythus, das zusammengezogene Welt¬ bild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der Erscheinung, das Wunder nicht entbehren kann. Das Wahrscheinliche ist aber, dass fast Jeder, bei strenger Prüfung, sich so durch den kritisch-historischen Geist unserer Bildung zersetzt fühlt, um nur etwa auf gelehrtem Wege, durch vermittelnde Ab¬ stractionen, sich die einstmalige Existenz des Mythus glaub¬ lich zu machen. Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Cultur¬ bewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet. Die Bilder des Mythus müssen die unbemerkt allgegenwärtigen dämo¬ nischen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und seine Kämpfe deutet: und selbst der Staat kennt keine mächtigeren ungeschriebnen Gesetze als das mythische Funda¬ ment, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Her¬ auswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt. Man stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen ge¬ leiteten Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte, das abstracte Recht, den abstracten Staat: man vergegenwärtige sich das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelte Schweifen der künstlerischen Phantasie: man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmer¬ lich zu nähren verurtheilt ist — das ist die Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten So¬ kratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend nach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegensten Alterthümern nach ihnen graben müsste. Worauf weist das un¬

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —132—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/145>, abgerufen am 01.05.2024.