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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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klären: wenn anders die Kunst nicht nur Nachahmung der
Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supple¬
ment der Naturwirklichkeit ist, zu deren Ueberwindung neben
sie gestellt. Der tragische Mythus, sofern er überhaupt zur
Kunst gehört, nimmt auch vollen Antheil an dieser meta¬
physischen Verklärungsabsicht der Kunst überhaupt: was
verklärt er aber, wenn er die Erscheinungswelt unter dem
Bilde des leidenden Helden vorführt? Die "Realität" dieser
Erscheinungswelt am wenigsten, denn er sagt uns gerade:
"Seht hin! Seht genau hin! Dies ist euer Leben! Dies
ist der Stundenzeiger an eurer Daseinsuhr!"

Und dieses Leben zeigte der Mythus, um es vor uns
damit zu verklären? Wenn aber nicht, worin liegt dann die
ästhetische Lust, mit der wir auch jene Bilder an uns vor¬
überziehen lassen? Ich frage nach der ästhetischen Lust und
weiss recht wohl, dass viele dieser Bilder ausserdem mitunter
noch eine moralische Ergetzung, etwa unter der Form des
Mitleides oder eines sittlichen Triumphes, erzeugen können.
Wer die Wirkung des Tragischen aber allein aus diesen
moralischen Quellen ableiten wollte, wie es freilich in der
Aesthetik nur allzu lange üblich war, der mag nur nicht
glauben, etwas für die Kunst damit gethan zu haben: die
vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangen muss. Für
die Erklärung des tragischen Mythus ist es gerade die erste
Forderung, die ihm eigenthümliche Lust in der rein ästhe¬
tischen Sphäre zu suchen, ohne in das Gebiet des Mitleids,
der Furcht, des Sittlich-Erhabenen überzugreifen. Wie kann
das Hässliche und das Disharmonische, der Inhalt des tra¬
gischen Mythus, eine ästhetische Lust erregen?

Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen An¬
lauf in eine Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen,
indem ich den früheren Satz wiederhole, dass nur als ein
ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerecht¬

klären: wenn anders die Kunst nicht nur Nachahmung der
Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supple¬
ment der Naturwirklichkeit ist, zu deren Ueberwindung neben
sie gestellt. Der tragische Mythus, sofern er überhaupt zur
Kunst gehört, nimmt auch vollen Antheil an dieser meta¬
physischen Verklärungsabsicht der Kunst überhaupt: was
verklärt er aber, wenn er die Erscheinungswelt unter dem
Bilde des leidenden Helden vorführt? Die »Realität« dieser
Erscheinungswelt am wenigsten, denn er sagt uns gerade:
»Seht hin! Seht genau hin! Dies ist euer Leben! Dies
ist der Stundenzeiger an eurer Daseinsuhr!«

Und dieses Leben zeigte der Mythus, um es vor uns
damit zu verklären? Wenn aber nicht, worin liegt dann die
ästhetische Lust, mit der wir auch jene Bilder an uns vor¬
überziehen lassen? Ich frage nach der ästhetischen Lust und
weiss recht wohl, dass viele dieser Bilder ausserdem mitunter
noch eine moralische Ergetzung, etwa unter der Form des
Mitleides oder eines sittlichen Triumphes, erzeugen können.
Wer die Wirkung des Tragischen aber allein aus diesen
moralischen Quellen ableiten wollte, wie es freilich in der
Aesthetik nur allzu lange üblich war, der mag nur nicht
glauben, etwas für die Kunst damit gethan zu haben: die
vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangen muss. Für
die Erklärung des tragischen Mythus ist es gerade die erste
Forderung, die ihm eigenthümliche Lust in der rein ästhe¬
tischen Sphäre zu suchen, ohne in das Gebiet des Mitleids,
der Furcht, des Sittlich-Erhabenen überzugreifen. Wie kann
das Hässliche und das Disharmonische, der Inhalt des tra¬
gischen Mythus, eine ästhetische Lust erregen?

Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen An¬
lauf in eine Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen,
indem ich den früheren Satz wiederhole, dass nur als ein
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[—139—/0152] klären: wenn anders die Kunst nicht nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supple¬ ment der Naturwirklichkeit ist, zu deren Ueberwindung neben sie gestellt. Der tragische Mythus, sofern er überhaupt zur Kunst gehört, nimmt auch vollen Antheil an dieser meta¬ physischen Verklärungsabsicht der Kunst überhaupt: was verklärt er aber, wenn er die Erscheinungswelt unter dem Bilde des leidenden Helden vorführt? Die »Realität« dieser Erscheinungswelt am wenigsten, denn er sagt uns gerade: »Seht hin! Seht genau hin! Dies ist euer Leben! Dies ist der Stundenzeiger an eurer Daseinsuhr!« Und dieses Leben zeigte der Mythus, um es vor uns damit zu verklären? Wenn aber nicht, worin liegt dann die ästhetische Lust, mit der wir auch jene Bilder an uns vor¬ überziehen lassen? Ich frage nach der ästhetischen Lust und weiss recht wohl, dass viele dieser Bilder ausserdem mitunter noch eine moralische Ergetzung, etwa unter der Form des Mitleides oder eines sittlichen Triumphes, erzeugen können. Wer die Wirkung des Tragischen aber allein aus diesen moralischen Quellen ableiten wollte, wie es freilich in der Aesthetik nur allzu lange üblich war, der mag nur nicht glauben, etwas für die Kunst damit gethan zu haben: die vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangen muss. Für die Erklärung des tragischen Mythus ist es gerade die erste Forderung, die ihm eigenthümliche Lust in der rein ästhe¬ tischen Sphäre zu suchen, ohne in das Gebiet des Mitleids, der Furcht, des Sittlich-Erhabenen überzugreifen. Wie kann das Hässliche und das Disharmonische, der Inhalt des tra¬ gischen Mythus, eine ästhetische Lust erregen? Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen An¬ lauf in eine Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen, indem ich den früheren Satz wiederhole, dass nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerecht¬

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —139—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/152>, abgerufen am 28.04.2024.