Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von
dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel
dem menschlichen Individuum in's Bewusstsein treten, als von
jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden
kann: so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger
wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Ge¬
rechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind. Wo sich die diony¬
sischen Mächte so ungestüm erheben, wie wir dies erleben,
da muss auch bereits Apollo, in eine Wolke gehüllt, zu uns
herniedergestiegen sein; dessen üppigste Schönheitswirkungen
wohl eine nächste Generation schauen wird.

Dass diese Wirkung aber nöthig sei, dies würde Jeder
am sichersten, durch Intuition, nachempfinden, wenn er ein¬
mal, sei es auch im Traume, in eine althellenische Existenz
sich zurückversetzt fühlte: im Wandeln unter hohen ionischen
Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch
reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben sich Wieder¬
spiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor,
rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte Menschen,
mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer Gebärden¬
sprache -- würde er nicht, bei diesem fortwährenden Ein¬
strömen der Schönheit, zu Apollo die Hand erhebend aus¬
rufen müssen: "Seliges Volk der Hellenen! Wie gross muss
unter euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solche
Zauber für nöthig hält, um euren dithyrambischen Wahnsinn
zu heilen"! -- Einem so Gestimmten dürfte aber ein greiser
Athener, mit dem erhabenen Auge des Aeschylus zu ihm
aufblickend, entgegnen: "Sage aber auch dies, du wunder¬
licher Fremdling: wie viel musste dies Volk leiden, um so
schön werden zu können! Jetzt aber folge mir zur Tragödie
und opfere mit mir im Tempel beider Gottheiten"!


Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von
dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel
dem menschlichen Individuum in's Bewusstsein treten, als von
jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden
kann: so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger
wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Ge¬
rechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind. Wo sich die diony¬
sischen Mächte so ungestüm erheben, wie wir dies erleben,
da muss auch bereits Apollo, in eine Wolke gehüllt, zu uns
herniedergestiegen sein; dessen üppigste Schönheitswirkungen
wohl eine nächste Generation schauen wird.

Dass diese Wirkung aber nöthig sei, dies würde Jeder
am sichersten, durch Intuition, nachempfinden, wenn er ein¬
mal, sei es auch im Traume, in eine althellenische Existenz
sich zurückversetzt fühlte: im Wandeln unter hohen ionischen
Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch
reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben sich Wieder¬
spiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor,
rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte Menschen,
mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer Gebärden¬
sprache — würde er nicht, bei diesem fortwährenden Ein¬
strömen der Schönheit, zu Apollo die Hand erhebend aus¬
rufen müssen: »Seliges Volk der Hellenen! Wie gross muss
unter euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solche
Zauber für nöthig hält, um euren dithyrambischen Wahnsinn
zu heilen«! — Einem so Gestimmten dürfte aber ein greiser
Athener, mit dem erhabenen Auge des Aeschylus zu ihm
aufblickend, entgegnen: »Sage aber auch dies, du wunder¬
licher Fremdling: wie viel musste dies Volk leiden, um so
schön werden zu können! Jetzt aber folge mir zur Tragödie
und opfere mit mir im Tempel beider Gottheiten«!


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0156" n="143"/>
        <p>Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von<lb/>
dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel<lb/>
dem menschlichen Individuum in's Bewusstsein treten, als von<lb/>
jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden<lb/>
kann: so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger<lb/>
wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Ge¬<lb/>
rechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind. Wo sich die diony¬<lb/>
sischen Mächte so ungestüm erheben, wie wir dies erleben,<lb/>
da muss auch bereits Apollo, in eine Wolke gehüllt, zu uns<lb/>
herniedergestiegen sein; dessen üppigste Schönheitswirkungen<lb/>
wohl eine nächste Generation schauen wird.</p><lb/>
        <p>Dass diese Wirkung aber nöthig sei, dies würde Jeder<lb/>
am sichersten, durch Intuition, nachempfinden, wenn er ein¬<lb/>
mal, sei es auch im Traume, in eine althellenische Existenz<lb/>
sich zurückversetzt fühlte: im Wandeln unter hohen ionischen<lb/>
Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch<lb/>
reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben sich Wieder¬<lb/>
spiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor,<lb/>
rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte Menschen,<lb/>
mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer Gebärden¬<lb/>
sprache &#x2014; würde er nicht, bei diesem fortwährenden Ein¬<lb/>
strömen der Schönheit, zu Apollo die Hand erhebend aus¬<lb/>
rufen müssen: »Seliges Volk der Hellenen! Wie gross muss<lb/>
unter euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solche<lb/>
Zauber für nöthig hält, um euren dithyrambischen Wahnsinn<lb/>
zu heilen«! &#x2014; Einem so Gestimmten dürfte aber ein greiser<lb/>
Athener, mit dem erhabenen Auge des Aeschylus zu ihm<lb/>
aufblickend, entgegnen: »Sage aber auch dies, du wunder¬<lb/>
licher Fremdling: wie viel musste dies Volk leiden, um so<lb/>
schön werden zu können! Jetzt aber folge mir zur Tragödie<lb/>
und opfere mit mir im Tempel beider Gottheiten«!</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143/0156] Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in's Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann: so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Ge¬ rechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind. Wo sich die diony¬ sischen Mächte so ungestüm erheben, wie wir dies erleben, da muss auch bereits Apollo, in eine Wolke gehüllt, zu uns herniedergestiegen sein; dessen üppigste Schönheitswirkungen wohl eine nächste Generation schauen wird. Dass diese Wirkung aber nöthig sei, dies würde Jeder am sichersten, durch Intuition, nachempfinden, wenn er ein¬ mal, sei es auch im Traume, in eine althellenische Existenz sich zurückversetzt fühlte: im Wandeln unter hohen ionischen Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben sich Wieder¬ spiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor, rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte Menschen, mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer Gebärden¬ sprache — würde er nicht, bei diesem fortwährenden Ein¬ strömen der Schönheit, zu Apollo die Hand erhebend aus¬ rufen müssen: »Seliges Volk der Hellenen! Wie gross muss unter euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solche Zauber für nöthig hält, um euren dithyrambischen Wahnsinn zu heilen«! — Einem so Gestimmten dürfte aber ein greiser Athener, mit dem erhabenen Auge des Aeschylus zu ihm aufblickend, entgegnen: »Sage aber auch dies, du wunder¬ licher Fremdling: wie viel musste dies Volk leiden, um so schön werden zu können! Jetzt aber folge mir zur Tragödie und opfere mit mir im Tempel beider Gottheiten«!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/156
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/156>, abgerufen am 13.10.2024.