Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 3. Chemnitz, 1884.

Bild:
<< vorherige Seite

Nehmende nahm? Ist Schenken nicht eine Nothdurft?
Ist Nehmen nicht -- Erbarmen?" --

Oh meine Seele, ich verstehe das Lächeln deiner
Schwermuth: dein Über-Reichthum selber streckt nun
sehnende Hände aus!

Deine Fülle blickt über brausende Meere hin und
sucht und wartet; die Sehnsucht der Über-Fülle blickt
aus deinem lächelnden Augen-Himmel!

Und wahrlich, oh meine Seele! Wer sähe dein
Lächeln und schmölze nicht vor Thränen? Die Engel
selber schmelzen vor Thränen ob der Über-Güte
deines Lächelns.

Deine Güte und Über-Güte ist es, die nicht klagen
und weinen will: und doch sehnt sich, oh meine Seele,
dein Lächeln nach Thränen und dein zitternder Mund
nach Schluchzen.

"Ist alles Weinen nicht ein Klagen? Und alles
Klagen nicht ein Anklagen?" Also redest du zu dir
selber, und darum willst du, oh meine Seele, lieber
lächeln, als dein Leid ausschütten

-- in stürzende Thränen ausschütten all dein Leid
über deine Fülle und über all die Drängniss des
Weinstocks nach Winzer und Winzermesser!

Aber willst du nicht weinen, nicht ausweinen
deine purpurne Schwermuth, so wirst du singen
müssen, oh meine Seele! -- Siehe, ich lächle selber,
der ich dir solches vorhersage:

-- singen, mit brausendem Gesange, bis alle
Meere still werden, dass sie deiner Sehnsucht zu¬
horchen, --

-- bis über stille sehnsüchtige Meere der Nachen

Nehmende nahm? Ist Schenken nicht eine Nothdurft?
Ist Nehmen nicht — Erbarmen?“ —

Oh meine Seele, ich verstehe das Lächeln deiner
Schwermuth: dein Über-Reichthum selber streckt nun
sehnende Hände aus!

Deine Fülle blickt über brausende Meere hin und
sucht und wartet; die Sehnsucht der Über-Fülle blickt
aus deinem lächelnden Augen-Himmel!

Und wahrlich, oh meine Seele! Wer sähe dein
Lächeln und schmölze nicht vor Thränen? Die Engel
selber schmelzen vor Thränen ob der Über-Güte
deines Lächelns.

Deine Güte und Über-Güte ist es, die nicht klagen
und weinen will: und doch sehnt sich, oh meine Seele,
dein Lächeln nach Thränen und dein zitternder Mund
nach Schluchzen.

„Ist alles Weinen nicht ein Klagen? Und alles
Klagen nicht ein Anklagen?“ Also redest du zu dir
selber, und darum willst du, oh meine Seele, lieber
lächeln, als dein Leid ausschütten

— in stürzende Thränen ausschütten all dein Leid
über deine Fülle und über all die Drängniss des
Weinstocks nach Winzer und Winzermesser!

Aber willst du nicht weinen, nicht ausweinen
deine purpurne Schwermuth, so wirst du singen
müssen, oh meine Seele! — Siehe, ich lächle selber,
der ich dir solches vorhersage:

— singen, mit brausendem Gesange, bis alle
Meere still werden, dass sie deiner Sehnsucht zu¬
horchen, —

— bis über stille sehnsüchtige Meere der Nachen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0114" n="104"/>
Nehmende nahm? Ist Schenken nicht eine Nothdurft?<lb/>
Ist Nehmen nicht &#x2014; Erbarmen?&#x201C; &#x2014;</p><lb/>
        <p>Oh meine Seele, ich verstehe das Lächeln deiner<lb/>
Schwermuth: dein Über-Reichthum selber streckt nun<lb/>
sehnende Hände aus!</p><lb/>
        <p>Deine Fülle blickt über brausende Meere hin und<lb/>
sucht und wartet; die Sehnsucht der Über-Fülle blickt<lb/>
aus deinem lächelnden Augen-Himmel!</p><lb/>
        <p>Und wahrlich, oh meine Seele! Wer sähe dein<lb/>
Lächeln und schmölze nicht vor Thränen? Die Engel<lb/>
selber schmelzen vor Thränen ob der Über-Güte<lb/>
deines Lächelns.</p><lb/>
        <p>Deine Güte und Über-Güte ist es, die nicht klagen<lb/>
und weinen will: und doch sehnt sich, oh meine Seele,<lb/>
dein Lächeln nach Thränen und dein zitternder Mund<lb/>
nach Schluchzen.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ist alles Weinen nicht ein Klagen? Und alles<lb/>
Klagen nicht ein Anklagen?&#x201C; Also redest du zu dir<lb/>
selber, und darum willst du, oh meine Seele, lieber<lb/>
lächeln, als dein Leid ausschütten</p><lb/>
        <p>&#x2014; in stürzende Thränen ausschütten all dein Leid<lb/>
über deine Fülle und über all die Drängniss des<lb/>
Weinstocks nach Winzer und Winzermesser!</p><lb/>
        <p>Aber willst du nicht weinen, nicht ausweinen<lb/>
deine purpurne Schwermuth, so wirst du <hi rendition="#g">singen</hi><lb/>
müssen, oh meine Seele! &#x2014; Siehe, ich lächle selber,<lb/>
der ich dir solches vorhersage:</p><lb/>
        <p>&#x2014; singen, mit brausendem Gesange, bis alle<lb/>
Meere still werden, dass sie deiner Sehnsucht zu¬<lb/>
horchen, &#x2014;</p><lb/>
        <p>&#x2014; bis über stille sehnsüchtige Meere der Nachen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0114] Nehmende nahm? Ist Schenken nicht eine Nothdurft? Ist Nehmen nicht — Erbarmen?“ — Oh meine Seele, ich verstehe das Lächeln deiner Schwermuth: dein Über-Reichthum selber streckt nun sehnende Hände aus! Deine Fülle blickt über brausende Meere hin und sucht und wartet; die Sehnsucht der Über-Fülle blickt aus deinem lächelnden Augen-Himmel! Und wahrlich, oh meine Seele! Wer sähe dein Lächeln und schmölze nicht vor Thränen? Die Engel selber schmelzen vor Thränen ob der Über-Güte deines Lächelns. Deine Güte und Über-Güte ist es, die nicht klagen und weinen will: und doch sehnt sich, oh meine Seele, dein Lächeln nach Thränen und dein zitternder Mund nach Schluchzen. „Ist alles Weinen nicht ein Klagen? Und alles Klagen nicht ein Anklagen?“ Also redest du zu dir selber, und darum willst du, oh meine Seele, lieber lächeln, als dein Leid ausschütten — in stürzende Thränen ausschütten all dein Leid über deine Fülle und über all die Drängniss des Weinstocks nach Winzer und Winzermesser! Aber willst du nicht weinen, nicht ausweinen deine purpurne Schwermuth, so wirst du singen müssen, oh meine Seele! — Siehe, ich lächle selber, der ich dir solches vorhersage: — singen, mit brausendem Gesange, bis alle Meere still werden, dass sie deiner Sehnsucht zu¬ horchen, — — bis über stille sehnsüchtige Meere der Nachen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra03_1884
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra03_1884/114
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 3. Chemnitz, 1884, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra03_1884/114>, abgerufen am 27.04.2024.